„Die Ozeane, ein Erbe für die Zukunft“ lautete das Motto der Weltausstellung, die Lissabon 1998 zur 500-Jahr-Feier der Indienreise Vasco da Gamas ausrichtete. Schauplatz war ein Uferstreifen des Tejo im Osten der portugiesischen Hauptstadt, der zuvor von weitgehend brach liegenden Industrie- und Hafenanlagen bedeckt war. Eine erhöht geführte Bahnlinie trennte den neuen Expo-Standort vom westlich gelegenen Stadtviertel Olivais ab.
Mit seinem neuen Ostbahnhof, der Estação do Oriente, gab Santiago Calatrava der Expo 98 nicht nur eines ihrer architektonischen Wahrzeichen, sondern hob zugleich diese Trennung auf. Dafür verlegte er gegenüber der Wettbewerbsauslobung eigens den Standort des Bahnhofs, verlegte die Bahntrasse auf eine 14 m hohe Brückenkonstruktion aus flachen Stahlbetonbögen und unterquerte diese mit zwei neuen Straßenzügen in Ost-West-Richtung.
Rampen, Rolltreppen, Verbindungsstege
Im Westen dockt ein Busbahnhof an den Bahnhofskomplex an, im Osten öffnet sich dieser zur Eingangsplaza der Expo samt Eingangsgebäude, das heute als Shopping-Mall dient.
Auch unter den Brückenbögen, gewissermaßen in den Kryptoportiken des Bahnhofs, befinden sich Läden, Fahrkartenschalter, die dazu gehörigen Back-Offices und WCs. Erschlossen werden sie von unzähligen Rampen, Rolltreppen und Verbindungsstegen - weit mehr, als für den Betrieb eines Bahnhofs, der immerhin von 75 Millionen Reisenden jährlich frequentiert wird, erforderlich wären. Gerade in der heißen Saison lädt dieser schattige Bereich zum Herumwandeln ein.
Baumstützen aus Glas
Indem er den Kommerz und die Nebenfunktionen unter das Gleisbett verbannte, konnte Calatrava die eigentliche, 238 x 72 m große Bahnhofshalle von Einbauten, die nicht dem Bahnbetrieb dienen, komplett freihalten. 60 Baumstützen aus Glas und weiß lackiertem Stahl, jede mit einem Quadratgrundriss von 17x17 m und am Scheitelpunkt 23 m hoch, ergänzen sich zu einer lichten Wandelhalle mit offenen Seiten. Es ist vielleicht der „gotischste“ aller Räume Calatravas, dem oft nachgesagt wurde, er habe maßgebliche Inspiration aus der Baukunst der mittelalterlichen Kathedralen geschöpft. Anders als viele der Expo-Bauten hat die Estação do Oriente bis heute nichts von ihrer Bedeutung für die Stadt eingebüßt: Sie ist Haupt-Verkehrsknoten für den Lissaboner Nordosten; wer immer aus Richtung Spanien, Nordportugal oder der Algarve in der Hauptstadt ankommt, aber nicht ins Zentrum weiterfahren will, steigt hier aus und um.