Zur Architekturbiennale Tallinn: Warum Architektur schön sein sollte
Foto: © Tõnu Tunnel
Warum noch eine Architekturbiennale – gibt es nicht ohnehin schon zu viele davon? Mag sein, und doch ist die diesjährige 5. Architekturbiennale in der estnischen Hauptstadt Tallinn (bis 17. November) besonders. Mit einer Ausstellung, einem Symposium, einem Wettbewerb und verschiedenen Architekturschulen sowie einem Satellitenprogramm geht die Londoner Kuratorin Yeal Reisner der Erfahrung des Schönen auf den Grund. Gezielt bezieht sie dabei neben aktuellen Ansätzen der internationalen Architektur auch die Neurobiologie, die Philosophie, Lyrik und die Mathematik mit ein. »Wir können Schönheit nicht mit einfachen Worten definieren, und trotzdem wissen wir, dass ihre Erfahrung überraschende Qualitäten birgt«, so Yael Reisner. Ihre These ist, dass Schönheit in einer Welt der Augmented und Virtual Reality sowie der post-digitalen Architektur an Bedeutung zunimmt, und zwar als subjektive Erfahrung und als kognitive Intuition.
Auf den Spuren des Schönen
Unten und oben gibt es nicht in der Installation, die der japanische Architekt Sou Fujimoto für die Biennale entworfen hat. Einzelne Holzquader sind zu einer Pavillon-artigen Struktur miteinander verbunden und übereinandergeschichtet. Sie lassen Lücken und Durchblicke frei, verdichten sich zu einer begehbaren Struktur und sind zu einem Raum gefügt, der eine ästhetische Erfahrung in sich birgt. Wer sich in diesen Raum mit dem Titel »Open Cave« begibt, ist gleichermaßen geborgen wie verwirrt, weil gängige Raumvorstellungen keine Geltung mehr haben.
Sou Fujimotos Beitrag ist Teil der Ausstellung »Beauty matters« im Estnischen Architekturmuseum – und einer von insgesamt acht eingeladenen und teilnehmenden Architekten aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten. Mit experimentellen Ideen und Konzepten erkunden sie alle die Erfahrung des Schönen in Wohnumfeldern. Die Rauminstallationen, die sich in den Ausstellungsräumen im ehemaligen Rotermann Salzspeicher zu sehen sind, sind mal mit einfachen Mitteln gefertigt und mal 3D-gedruckt oder als virtuelle Erfahrung mit der 3D-Brille umgesetzt. Elena Manfredini (USA) und soma (AT), Space Popular (UK), March Studio (AU) und viele andere gehen in ihren Beiträgen der Frage nach, wie sich das Wohnumfeld der Menschen in Zukunft verändern wird, und welche Erfahrungen dadurch möglich werden. Nicht immer sind die spekulativen Ergebnisse dieses Denkansatzes „schön“ in formaler Hinsicht, doch darum geht es nicht. Was hier ausgelotet wird, ist die Bedeutung der Architektur als einer Zukunftsdisziplin, die ästhetische Erfahrungen im Alltag möglich macht. Im Zeitalter des open-source design und des robotic building, der CAD-CAM-Systeme und der Algorithmen ist dieser Gedanke durchaus berechtigt. Nach dem Tod des Autors in den 70er-Jahren scheint seine Rolle als kreativer Ideengeber, der Erfahrungen mithilfe digitaler Tools wahr werden lässt, heute und in Zukunft umso wichtiger.
Für eine neue Ontologie der Dinge
Wie der große Rahmen für diesen Kontext ist, wurde im Symposium an den Eröffnungstagen verhandelt. Die Welt der Dinge und ihre ontologische Bedeutung waren Graham Harmans Thema. Für den Erfinder der »Object Orientated Ontology« (»Tripple-O«) ist das Gegenteil des Schönen nicht das Hässliche, sondern das Buchstäbliche. Neben dem Philosophen trugen Mathematiker, Lyriker, Neurobiologen und Architekten ihre Gedanken zur Erfahrung des Schönen beim Symposium vor. Dass der Rahmen der interdisziplinären Diskussion hier recht weit geöffnet war, stellt sich als ein Risiko heraus – das manchmal ohne Ergebnis blieb und manchmal zu Gedankenfunken führen konnte. Was letztlich zählt ist der Mut zum Experimentieren – fachübergreifend, interdisziplinär und immer mit Blick nach vorne. Dies ist einer der mutigen Ansätze in Tallinn und auch der Grund, warum die Architekturbiennale in der estnischen Hauptstadt besonders ist.
Weitere Informationen