04.05.2015 Jakob Schoof

Was heißt Niedrigstenergie? Passivhaustagung 2015 in Leipzig

2017 soll es endlich soweit sein: Dann werden wir wissen, wie der Niedrigstenergiestandard genau aussehen wird, der ab 2021 gemäß der EU-Gebäuderichtlinie für alle Neubauten hierzulande zur Pflicht wird. Vorschläge dazu wurden auch bei der diesjährigen Passivhaustagung Mitte April in Leipzig diskutiert.

Nach der EnEV ist vor der EnEV: Kaum ist die Energieeinsparverordnung 2014 eingeführt und die nächste Novelle 2016 beschlossene Sache, beginnt in Deutschland auch schon wieder das große Rechnen und Diskutieren darüber, wie es weitergeht. Denn ab 2021, so sieht es die EU-Gebäuderichtlinie vor, sollen Neubauten hierzulande keine oder fast keine Energie mehr verbrauchen. Diese Maßgabe gilt, sofern – und hier wird es interessant – das Ganze im Laufe des Gebäudelebenszyklus nicht zu unzumutbaren Mehrkosten führt. „Kostenoptimales Niveau“ lautet das Schlagwort, das unter Experten immer wieder zitiert wird.

Erich-Kästner-Grundschule in Leipzig, pbr Planungsbüro Rohling AG, Osnabrück, Foto: Stadt Leipzig

Auch bei der Passivhaustagung am 17. und 18. April in Leipzig stand der künftige Niedrigstenergiestandard – und seine Kostenaspekte – im Mittelpunkt vieler Diskussionen. Viele Anhänger des Passivhausstandards sähen es gern, wenn der neue Standard in möglichst vielen EU-Mitgliedsländern dem Prinzip »Passivhaus plus erneuerbare Energien« folgen würde. Das Passivhaus, so argumentieren sie, wurde in den vergangenen 25 Jahren in allen europäischen Klimazonen und in fast allen Gebäudetypologien erprobt. Anders als viele technisch hochgezüchtete Plusenergiehäuser stellt es seine Energieeffizienz auch in der Praxis unter Beweis und ermöglicht Bauherren so Planungssicherheit. Und die Mehrkosten halten sich in aller Regel in überschaubarem Rahmen.

Neue Gebäudestandards und neue Berechnungsmethoden
Zur Passivhaustagung 2015 hat das Passivhaus Institut die Gleichung »Passivhaus+Erneuerbare« nun detaillierter ausgeführt. Es hat nicht nur zwei neue Plusenergiestandards für Gebäude (Passivhaus Plus und Passivhaus Premium) vorgestellt, sondern gleich auch eine neue Bewertungsmethode für energieeffiziente Gebäude. Maßgeblich soll dabei nicht länger der Bedarf an nicht erneuerbarer Primärenergie sein, sondern die Frage: Wie viel Primärenergie würde das Haus in einem Szenario mit 100 % erneuerbarer Energieversorgung insgesamt verbrauchen? Damit will das Passivhaus Institut die Diskussion um die (oft politisch gesteuerten)  Primärenergiefaktoren umschiffen und den Blick wieder verstärkt auf die Energieeffizienz des Gebäudes selbst richten.

Die neuen Passivhaus-Gebäudestandards im Überblick. Grafik: Passivhaus Institut

Wem all dies zu kompliziert ist, der kann sein Passivhaus aber auch weiterhin wie gewohnt mit den bekannten Primärenergiefaktoren bilanzieren. Lediglich für die beiden neuen Plusenergiestandards ist die neue Bilanzierungsmethode alternativlos vorgeschrieben.

Forschungsschwerpunkt Gebäudelüftung
Ohnedies wird der künftige Niedrigstenergiestandard sich vor allem daran messen müssen, nicht nur bezahlbar, sondern auch verständlich und handhabbar zu sein. Auf den Nachweis der Kosteneffizienz von Passivhäusern hat man beim Passivhaus Institut zuletzt viel Zeit und PR-Arbeit investiert. Als Knackpunkt stellen sich dabei immer weniger die Komponenten der Gebäudehülle heraus, sondern die Lüftungsanlagen. Hierzu wurden auf der Konferenz zahlreiche Studien und technische Neuentwicklungen vorgestellt, mit denen in den nächsten Jahren endlich der dringend erforderliche Preissprung nach unten gelingen soll. Dazu zählen zum Beispiel neue Konzepte für eine erweiterte Kaskadenlüftung, »aktive« Überströmelemente mit eingebauten Ventilatoren für den Einbau in Innenwände und Türstürze, Lüftungsgeräte für die Montage auf dem Dach sowie wandintegrierte Lüftungsgeräte mit integrierten Kleinstwärmepumpen.

Luftheizung – eher ein Nischenthema
Letztere eignen sich überall dort, wo Passivhäuser noch nach der »reinen Lehre« gebaut werden, also beheizt ausschließlich über die Zuluft, ohne zusätzliche Heizkörper oder Fußbodenheizung. Doch solche Anwendungen beschränkten sich auf Einfamilienhäuser; im Mietwohnungsbau sind sie offenbar kein Thema mehr. In Europas größten Passivhausquartier, der »Bahnstadt« in Heidelberg mit 116 Hektar Fläche, wurde nicht in einem einzigen Neubau eine reine Luftheizung realisiert. Denn der Nachteil dieser Beheizungsmethode liegt darin, dass keine Differenzierung der Raumtemperaturen mehr möglich ist – und das ist Mietern offenbar nicht zuzumuten.

Nutzererfahrungen und Monitoring-Ergebnisse aus dem Gebäudebetrieb haben bei der Passivhaustagung schon seit Längerem ihren festen Platz. Dabei zeigen sich immer wieder ähnliche Ergebnisse: Zu kalt wird es den Bewohnern im Passivhaus eigentlich nie – aber im Sommer kommt es mitunter zu Problemen, weil die Wohnung (zu) warm wird. Bei einer Umfrage in der Heidelberger Bahnstadt sagte dies zum Beispiel rund die Hälfte der Befragten. Und anders als oft behauptet wird, erreichen gerade Nichtwohnbauten im Passivhausstandard in der Realität nicht immer die vorher berechneten Energiebedarfswerte. Das mussten Stefan Plesser und seine Mitarbeiter von der energydesign Braunschweig GmbH feststellen, als sie den Energieverbrauch in acht unlängst fertiggestellten Passivhaus-Kitas in Hannover maßen. Laut Plesser liegt eine wesentliche Herausforderung in der Qualitätssicherung und der Schulung von Nutzern und technischem Fachpersonal, wenn der Passivhaus- und Plusenergiestandard bei öffentlichen Bauvorhaben von der Ausnahme zur Regel werden soll.

Kindertagesstätte »Zauberhaus« in Delitzsch bei Leipzig, Architektengemeinschaft Reiter und Rentzsch, Dresden, Foto: Architektengemeinschaft Reiter + Rentzsch / Spitzner

EnerPHit-Standard auch für schrittweise Sanierungen
Einen weiteren Schwerpunkt bei der Passivhaustagung bildete die – auch schrittweise – Sanierung von Bestandsgebäuden. Vor fünf Jahren hat das Passivhaus Institut erstmals den EnerPHit-Standard – quasi ein »Passivhausstandard light« für die Gebäudesanierung – vorgestellt. Bisher war eine EnerPHit-Zertifizierung aber nur für Komplettsanierungen möglich. Das soll sich nun ändern: Derzeit arbeitet das Institut an einem neuen System, mit dem Planer auch »Sanierungsfahrpläne« für die schrittweise energetische Sanierung nach EnerPHit zertifizieren können.

Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt auch der Passivhaus Component Award für passivhaustaugliche Produkte, der 2015 zum zweiten Mal vergeben wurde. Diesmal waren Fensterhersteller aufgefordert, Konzepte für eine zweistufige Fenstersanierung (erster Schritt: Einbau eines Passivhausfensters; zweiter Schritt 10 Jahre später: zusätzliche Außenwanddämmung) zu entwickeln. Bewertet wurden jeweils für beide Sanierungsschritte die Praktikabilität, die Ästhetik, der Innovationsgehalt und die Lebenszykluskosten. Der nächste Passivhaus Component Award wird – ebenfalls am Beispiel einer Gebäudesanierung – Lüftungssysteme zum Thema haben. Er soll auf der Passivhaustagung 2016 verliehen werden, die in Darmstadt stattfindet.

Pablo-Neruda-Schule in Leipzig, Kühnl + Schmidt Architekten, Karlsruhe/Leipzig/München, Foto: Stadt Leipzig

Graue Energie unter ferner liefen
Mindestens ebenso aufschlussreich wie die Schwerpunkte der Passivhaustagung sind jene Themen, die in diesem Jahr keine oder kaum noch eine Rolle spielten. Dazu gehörten zum Beispiel:

Neue Gebäudetypologien: Seit sogar Hallenbäder, Krankenhäuser und Museen im Passivhausstandard realisiert werden, scheint dieses Thema mehr oder weniger ausgereizt. Neue Passivhausstandorte – mit Ausnahme von China: Seit einigen Jahren werden Passivhäuser auch in China gebaut – selbst im subtropischen Süden des Landes. Die ersten Ergebnisse dieser Bemühungen wurden in einer eigenen Arbeitsgruppe bei der Passivhaustagung vorgestellt. Eher zur Fußnote geriet hingegen die Nachricht, dass Belgien und die Niederlande derzeit ihr neues, gemeinsames Botschaftsgebäude in Kinshasa (Demokratische Republik Kongo) als Passivhaus errichten. Die Pläne stammen von dem Brüsseler Büro A2M Architectes, das zu den »Passivhauspionieren« in den Benelux-Ländern zählt. Stagnierende Ölpreise: Langfristig, so Wolfgang Feist, Leiter des Passivhaus Instituts, rentierten sich Passivhäuser auch bei den derzeitigen, historisch (relativ) niedrigen Preisen für fossile Brennstoffe – zumal diese wohl nicht dauerhaft so niedrig bleiben dürften. Billiger würde mittelfristig vor allem eine Energieform: die Erneuerbaren. Graue Energie: Sie wird in der Passivhauszertifizierung auch künftig keine Rolle spielen – der Fokus wird allein auf der Betriebsenergie liegen. Kritiker bemängeln diesen »blinden Fleck« der Passivhäuser schon länger. Andererseits würde eine Pflicht zur Ökobilanzierung den Bau von Passivhäusern wohl deutlich verteuern – ein »No go« für einen Standard, der sich auf die Fahnen schreibt, dereinst einmal zum Allgemeingut des Bauens in Europa zu gehören. 15 kWh/m²a: Die letzten Kilowattstunden auf dem Weg zum Passivhaus sind bekanntlich die schwersten, und nicht immer lohnt sich der Aufwand. Doch eine Infragestellung des eigenen Standards sollte vom Passivhaus Institut wohl niemand erwarten. Schließlich wirbt es seit Jahren damit, dass der Passivhausstandard klare, in aller Welt einheitliche Anforderungen an Energieverbrauch und Luftdichtheit in Gebäuden stellt.

Passivhaus »Bruck« bei Shanghai, Peter Ruge Architekten, Berlin, Foto: Jan Siefke

Neue PHPP-Version vorgestellt
Wie zu fast jeder Passivhaustagung der letzten Jahre wartete das Passivhaus Institut auch 2015 wieder mit einer neuen Version des Passivhaus-Projektierungspakets (PHPP) auf, die die neuen Plusenergiestandards und die PER-Berechnung unterstützt. Bei diesem Softwaretool herrscht inzwischen bemerkenswerte Einigkeit unter den Experten im energieeffizienten Bauen: Nicht nur Passivhausplaner loben das PHPP ob seiner Genauigkeit – auch bekennende Passivhaus-Kritiker ziehen es mitunter gern heran, wenn sie den bauphysikalischen Zusammenhänge in ihren Gebäuden auf den Grund gehen möchten.
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