13.06.2019 Bettina Sigmund

Progressive Bürowelten für einen flexiblen Arbeits- und Lifestyle

WORK: Neue Bürokonzepte von Vitra auf der Orgatec 2018 (Foto: Eduardo Perez © Vitra)

Die Büroarbeit und Officegebäude vollziehen derzeit einen Wandel. Woran liegt das?
Die Bürolandschaften in unserem Kulturkreis sind noch immer sehr stark durch die Parameter der Vergangenheit geprägt. Arbeit stand lange Zeit unter den Aspekten der Weisung und Kontrolle. Die Ressource Mensch sollte bestmöglich eingesetzt und organisiert werden. Diese Sicht verändert sich gerade, angestoßen durch eine gesellschaftliche Veränderung. Erste Co-Working-Formen entstanden vor knapp 15 Jahren aus einer rein gesellschaftlichen Bewegung heraus. Heute existiert eine breite Palette an Möglichkeiten und Bürotypologien, von der Arbeitszelle über Open Space bis zur Kreativgarage und darüber hinaus. Auch das Homeoffice hat durchaus Bedeutung. Wir sollten nicht in Kategorien denken, die sich gegenseitig ausschließen – es ist nichts verschwunden. Wir sollten in einer Bandbreite denken und gestalten. Man nutzt wechselnde räumliche Situationen für variierende Aufgaben. Egal welches Motiv ein Mensch hat, in unterschiedlich gearteten Büros oder eben auch nicht am Arbeitsplatz zu arbeiten, dieses Motiv muss erfüllt werden. Darum geht es. Diese Freiheit ist nicht mehr wegzudenken.

Demnach hat sich die Bedeutung des Individuums in der heutigen Arbeitswelt verändert?
Manche mögen sagen, der Mensch war schon immer wichtig, aber derzeit passiert etwas anderes. Die Menschen sind mündig geworden, es ist ihnen nicht mehr egal ist, in welcher Umgebung sie leben, wohnen, geschweige denn arbeiten. Das bedeutet einen Sinneswandel: Bislang ist bekannt, dass Arbeit krank macht. Aber weshalb kann ein Gebäude nicht auch zu Gesunderhaltung beitragen? Wieso soll das Gebäude keinen Beitrag zur Steigerung der kognitiven Funktion leisten? Weshalb sollten nicht Entspannung und Regeneration sowie Kreation und Anregung gleichermaßen in einem Gebäude stattfinden? Ein wichtiger Schritt hin zu einem gesunden Büro ist beispielsweise das biophile Design. Der Begriff wurde von dem Soziobiologen Edward O. Wilson geprägt, der die Beziehung von Mensch und Natur untersucht hat. Das biophile Design holt die Natur, natürliche Formen, Materialien und Pflanzen wieder in unsere Gebäude zurück. Häuser bekommen Gärten, es gibt Zugänge zu begrünten Innenhöfen, begrünte Dachterrassen, vorgelagerte Balkone, innenliegende Gärten, die Architekturen werden abwechslungsreicher und anregender. Das ist aber nur einer von vielen Aspekten. Es ist ein bunter Blumenstrauß an Faktoren und Möglichkeiten, der die Bürolandschaft verändert.

Welche Auswirkungen haben dabei Digitalisierung, Virtual Reality oder KI?
Wir, aus der alten, schön kontrollierten und standardisierten Welt, glauben, dass sich die Veränderung der Arbeit hauptsächlich auf die Digitalisierung reduzieren lässt. Die Digitalisierung ist lediglich nur ein Aspekt! Aber sie hat natürlich auch räumliche und gestalterische Auswirkungen. Zwei Beispiele: Durch die moderne computergestützte Büroarbeit ist der größte Teil unserer Arbeit unsichtbar. Die Menschen kommunizieren mit dem Computer. Ihre Leistung wird in Einsen und Nullen abgebildet. Es gibt Sharepoints, aber kaum jemand sieht, was der Kollege macht. Hier kommt das Gebäude ins Spiel: Welchen Beitrag kann die Architektur leisten, Arbeit wieder sichtbar und damit erlebbar und wertig zu machen? Möglichkeiten sind große Screens an hochfrequentierten Orten zu platzieren, Co-Kreationsflächen einzurichten, die bewusst durch große Scheiben für alle einsehbar sind, oder Orte für regelmäßige Townhall-Meetings zu schaffen. Arbeit macht man nicht sichtbar, wenn man Menschen verzellt, sie in Räumen mit verschlossenen Türen unterbringt. Der Anteil in Europa von Einzelarbeit zu Meetings, Design Sprints und Workshops liegt bereits bei 50/50. Es ist den Wenigsten bewusst, wie stark diese Teamarbeit bereits zugenommen hat.

Einen weiteren Aspekt, den die Digitalisierung mit sich bringt, nennen wir Machine Mind. Dieser wird in Zukunft besondere Relevanz für den Betreiber eines Gebäudes haben. Das sogenannte kognitive Gebäude wird die kommende Generation nachhaltiger Gebäudesysteme sein. Über Sensorik, Big Data, Machine Learning und Cloud Daten wird Betreibern ein stetiges Update gegeben, was gerade in dem Gebäude passiert. Dazu wird ein digitaler Zwilling des Gebäudes benötigt. Davon profitieren Facility Management und Community Management. Generell wird der Betrieb des Gebäudes ökonomischer und auch ökologischer. Aber auch der Nutzer profitiert unter dem Aspekt der Bequemlichkeit oder der Perspektive des Erlebnisses. Zukünftig wird es auch einen digitalen Zwilling der ganzen Organisation geben, so dass man über Augmented oder Virtual Reality im virtuellen Büro ein fast gleiches Gefühl der Teilhabe haben wird. Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber das kognitive Gebäude wird kommen.

Welche Rolle spielt zukünftig die Kommunikation und wie kann sie gestaltet werden?
Der amerikanische Forscher Alex Pentland stellt in seinem Buch Social Physics die Frage, ob Menschen durch die hohe Interaktion in sozialen Netzwerken smarter werden. Und diese These trifft natürlich erst recht auf reale, physische Interaktionen zu. Deshalb zog Co-Working vor gut fünf Jahren bei dem ersten deutschen Unternehmen mit ein. Die Idee dahinter ist, Mitarbeiter in Kontakt mit Menschen jenseits ihrer eigenen Organisation und jenseits ihrer Komfortzone zu bringen. Arbeitet man nur in seinem eigenen Dunstkreis, erreicht man irgendwann eine kollektive Intelligenz. Durch eine hohe Interaktion mit Menschen außerhalb des eigenen Wirkungskreises erlebt man jedoch eine echte Exploration, eine persönliche Entwicklung. Große Unternehmen öffnen nun ihre eigene Organisation, teilen Flächen und Einrichtungen am Firmensitz, um ein anderes Kolorit reinzuholen. Und auch große Mietobjekte werden nicht mehr nur großflächig belegt, sondern die Vermieter kuratieren ihre Mieter, weil man davon ausgeht, dass durch die Durchmischung ein Vorteil entsteht, der natürlich auch einen ökonomischen Effekt hat. Diese Entwicklung, die aus einer Zufälligkeit heraus entstanden ist, ist noch relativ jung, macht aber immer mehr Schule.

Ist es wichtig, sich mit dem Arbeitsort zu identifizieren?
Wir beschreiben die Sehnsucht des Menschen nach Verortung als Campus Community. Der Mensch kann im Grunde genommen arbeiten wann und wo er will. Natur, Gesundheit und Freiheit stehen ganz oben im Ranking des deutschen Werteindex. Auf der Gegenseite gibt es aber die Sehnsucht nach Zugehörigkeit auch im Berufsleben. Und Zugehörigkeit kann man bauen. Die beste Möglichkeit, Raum zu schaffen, der das Gefühl der Zugehörigkeit auslöst, sind Atrien und Begegnungsorte. Alleine das Sehen einer Vielzahl an Menschen erzeugt das Wissen, dass sie dazu gehören und dass man selbst dazu gehört. Firmen beleben deshalb ihre Atrien und Gebäude, öffnen diese für die Nachbarschaft, um den Ort von früh morgens bis spät abends zu aktivieren. Die Attraktivität kann durch eine gastronomische Bewirtung erhöht werden oder durch ein gezielt eingesetztes Community Management, das die Flächen bespielt und damit der Community ein Angebot gibt.

Und was bedeutet diese Entwicklung für die Bürostruktur selbst?
Die Hospitality-Bereiche nehmen stark zu – all das, was nicht Schreibtisch ist, wie Sofa, Café oder Bibliothek. Und die Teambereiche werden anders organisiert. Der Trend geht zu Teams mit mindestens 25 Personen. Das mag für deutsche Maßstäbe viel klingen, in anderen Ländern zählt das als ziemlich klein, besonders in Asien oder den USA, wo die Flächen und Grundrisse einfach größer sind. Die wichtige Frage dahinter ist: Zu wie vielen Menschen kann ich eine soziale Bindung aufbauen? Hat die Firma schon einen hohen Reifegrad die Selbstorganisation der Mitarbeiter betreffend, können sich diese Teams autonom organisieren und auch räumlich einrichten. Eine Firma, die bislang ihre Mitarbeiter noch in 2er- oder 4er-Büros untergebracht hat, kann natürlich nicht sofort den Sprung direkt in die Selbstorganisation machen. Die Veränderung der Arbeitswelt ist ein Prozess, den jedes Unternehmen langsam und im eigenen Tempo gehen muss. Dabei spielt das Alter der Mitarbeiter keine Rolle, sondern dass die Menschen auf die alte Art der Architektur konditioniert sind.

Wie lange wird es dauern, bis sich diese Konditionierung löst?
Wir sind Menschen. Wir sind nicht smart. Wir haben Rituale und Verhaltensweisen. Wir sind konditioniert. Heutzutage hat man aber erkannt, Menschen nicht länger als Ressource, sondern als Potenzial zu betrachten. Aber dies ist eine langsame Entwicklung, die ihre Zeit braucht. Das Vitra Citizen Office wurde als innovative Open Space Büroumgebung im Jahr 1993 entwickelt, erst 2007 entstand als nächster Meilenstein das Google Office in Zürich und 2018 wurde The Spheres – ein Gewächshausbüro – am Amazon Campus in Seattle eröffnet. Der Prozess ist dauerhaft und wird nicht irgendwann abgeschlossen sein. Wir müssen uns immer wieder fragen, was sich in zehn Jahren ändern wird. Was gibt es dann nicht mehr, was es heute gibt? Und was wird es stattdessen geben? Was tue ich dann nicht mehr, was ich heute noch mache? Was in meinem Arbeitsumfeld wird sich ändern? Die Digitalisierung wird sicherlich an vielen Stellen den Menschen ablösen. Die Kunst ist es, die Assets zu finden und auch in zehn Jahren bestmöglich zu nutzen. Gleiches gilt natürlich für die Architektur. Wer heute ein Gebäude entwickelt, sollte darüber nachdenken, was dieses Gebäude in zehn Jahren können muss. Ein Gebäude muss resilient genug sein, um diesen Anforderungen zu entsprechen. Anpassungsfähig und elastisch.

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