Perspektive Land – Retrospektive DETAIL Kongress 2019
Foto: © Philip Kottlorz
Mehrfach klang im Lauf des Detail Kongresses 2019, der am 16. Oktober im Haus der Wirtschaft in Stuttgart stattfand, der Tenor an, das Land sei alles andere als romantischer Zufluchtsort. Trostlose Industrieburgen mit gewaltigem Flächenverzehr, ausgestorbene Dorfzentren und mangelnde Infrastruktur prägen mitunter das Bild dünn besiedelter Räume. Diesem setzten die eingeladenen Fachreferenten vor mehr als 150 Gästen in Stuttgart erfreulicherweise zahlreiche Konzepte, Prozesse und Best Practice-Beispiele entgegen. Schließlich wurde deutlich, dass die strukturelle Entwicklung des ländlichen Raums entscheidend von den Akteuren abhängt, womit auch jeder Einzelne gemeint ist: vom Planer und Gestalter über das Gemeinderatsmitglied bis hin zum Bürger und dem designierten »Ortskümmerer«. Oder wie es der Verein Landluft ausdrückt: »Baukultur machen Menschen wie du und ich!«
»Bad things happen, when you leave the city«. Architekt Götz Menzel hat sich dem Werbeslogan eines Mietlagers in Manhattan, der ihm während eines längeren Arbeitsaufenthalts in New York des Öfteren begegnet ist, erfolgreich widersetzt. Aus seiner Heimat Hamburg und seinen späteren großstädtischen Lebensstationen zog es ihn ins Unterwallis in die Schweiz, wo er jetzt lebt und gemeinsam mit seiner Frau das Büro GayMenzel Architekten leitet. Die von ihnen sanierten Maisons Duc im nur 4600 Einwohner zählenden Saint-Maurice im Schweizer Kanton Wallis zeugen von einer Revitalisierung mit Ausstrahlungspotenzial. Unterschiedliche Nutzungen, darunter Wohnraum, eine Galerie und Künstlerateliers verzahnen sich räumlich und konzeptionell innerhalb dreier Nachbarhäuser in der Grand Rue, deren Bausubstanz bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht und um mehrere Zeitschichten samt der aktuellen Erweiterung ergänzt wurden (siehe Detail 9.2019). Sogar aus Lausanne kommen nun Besucher zu Ausstellungen und das Projekt hat das wiederkehrende Ereignis einer »Langen Nacht der Museen im Städtchen« zur Folge, dem sich mehrere ortsansässige Kultureinrichtungen angeschlossen haben.
Andreas Glatzl vom weltweit agierenden Büro Snøhetta propagierte eine dem Kontext gewidmete Architektur als Schlüssel für die (Wieder-) Belebung urbanistischer Kleinformate und Ortsränder. Ein Beispiel hierfür stellt der Perspektivenweg oberhalb von Innsbruck dar, der sich eher als subtiler Eingriff mit großer Wirkung neben der bestehenden Stararchitektur versteht. Es muss nicht immer ein aufsehenerregendes Projekt sein, wie das Unterwasser-Restaurant im norwegischen Lindesnes (siehe Detail 7-8.2019), das zum Impulsgeber für abgelegene Winkel wird. So trug das nach der höchsten Erhebung Norwegens benannte Büro durch architektonische und städtebauliche Maßnahmen zur Revitalisierung des Tiroler Orts Wattens bei, das außer dem Standort einer großen Kristallglasmanufaktur bisher relativ wenig Anreiz für Zuzug oder Besucher bot. Dem Kontext verhaftet ist auch Georg A. Poensgen von der Hochschule Koblenz, der mit seinem eigenen Architekturbüro zahlreiche Projekte in der Region Eifel unter Verwendung lokaler Materialien oder Gestaltungsmerkmale schuf und auf dem Kongress vorstellte. Peter Haimerl gab ein leidenschaftliches Plädoyer für die Rolle und die Verantwortung der Architekten bei der Wiederbelebung dünn besiedelter Räume ab. Sein Projekt Schedlberg im Bayerischen Wald zeigt eindringlich, wie sich die todgeweihte Bausubstanz eines alten Bauernhofs retten und mit dem Baustoff Beton verzahnen lässt. Sein Vortrag vermittelte, warum neue Denkwelten in der Architektur gefordert sind und inwiefern die Baumeister Antworten schulden, um den in die Mode gekommenen Einfamilienhaussiedlungen Einhalt zu gebieten und stattdessen den Wert des Vorhandenen zu schöpfen.
Der Fachkongress kombinierte Hintergrundinformationen und Bestandsaufnahmen ländlicher Räume mit Einblicken in baukulturelle Initiativen und Vorzeigeprojekte mit sowohl öffentlicher, gewerblicher, privater als auch kultureller Nutzung. Giovanni Netzer lud auf eine inspirierende Kurzreise an den Julierpass ein, wo das von ihm initiierte und von zahlreichen architektonischen Eingriffen begleitete Kulturfestival Origen für das 160 Einwohner zählende Schweizer Dorf Riom eine beachtliche Infrastruktur nach sich zog (siehe Detail 6.2019). Die alpine Brache sei ein Ort, an dem man denkt, man könne nichts mehr machen. Doch der sogenannte potenzialarme Raum könne auch zur »wunderbaren Brache« werden. Entfernt man sich beispielsweise von der klassischen Vorstellung einer Theaterbühne und nutzt die vorhandenen Strukturen, entsteht ungeahnter Raum für Inszenierungen. Das Bühnenbild stellt die Natur, für Lichttechnik sorgt mitunter die Sonne und Dantes Hölle wurde wohl noch nie so passend verortet, wie in einen stillgelegten Waggon und Tunnel der rhätischen Bahn. Letztendlich ist das Bergdorf zu einer Werkstatt geworden, in dem inzwischen Textilhandwerk mit Haute-Couture-Einflüssen einen eigenen Kulturbeitrag leistet.
Zahlreiche Holzbauprojekte rahmten das abwechslungsreiche Programm des diesjährigen Kongresses. So beschrieb beispielsweise Fredi D’Aloisio vom Konstanzer Büro D’Aloisio Architekten anhand von Schulbauprojekten in Holzbauweise in Steißlingen am Bodensee, wieviel Überzeugungsarbeit es anfangs erfordert hatte, die Konstruktionsart in einem kommunalen Auftrag anzuwenden. Eine Exkursion ins nahegelegene Vorarlberg half dabei, die Vorurteile gegenüber des Holzbaus zu beseitigen. Die konstruktiven und gestalterischen Potenziale des Materials zeigte im Tandemvortrag Reinhold Müller vom Unternehmen Müllerblaustein unter anderem anhand des BUGA-Holzpavillons in Heilbronn auf, bei dem ein bionischer Ansatz und robotergestützte Produktion der Plattenverbindungen zu einer bislang einzigartigen Tragkonstruktion führten. Thomas Steimle vom Büro Steimle Architekten aus Stuttgart stellte den Umbau einer 100 Jahre alten Scheune zu einer Bibliothek in der an den Bodensee grenzenden Gemeinde Kressbronn vor. Hier wurden charakteristische Merkmale des landwirtschaftlichen Bestandbaus auf die neue Architektur übertragen und an heutige Standard angepasst. Letztendlich entstand ein Gesamtwerk, »bei dem viele Bausteine aufeinandergepasst haben«. Auch mit dem Rathausneubau in Remchingen bei Pforzheim ist dem Büro der Stadtbaustein für eine neue Mitte gelungen, der fortan einen Raum für Begegnung und Kommunikation zur Verfügung stellt.
Markus Lager vom Berliner Büro Kaden + Lager lenkte den Blick erneut auf die Möglichkeiten und Chancen moderner Holzbauweise. Das zurzeit prominenteste Beispiel stellt das zehngeschossige Wohnhochhaus Skaio in Heilbronn dar, das dieses Jahr fertiggestellt wurde (siehe Detail 10.2019). Im Tandemvortrag mit Anders Übelhack vom ausführenden Unternehmen Züblin Timber wurde deutlich, dass die Nachfrage nach dem vom Land geprägten und für die Stadt weiterentwickelten Holzbau in den letzten Jahrzehnten rasant gestiegen ist und vermehrt auch bei Bauherren und Investoren auf Interesse stößt. Nicht zuletzt trug die Erfindung des Brettsperrholzes zu dieser Entwicklung bei. Eine Lehrstunde in Sachen Holztragwerke bot Christoph Dünser von Hermann Kaufmann und Partner. Mit dem Schraubenwerk Gaisbach im süddeutschen Waldenburg entstand eine Produktionshalle, deren bemerkenswerte Spannweite von bis zu 42 m allein aufgrund der Schraubverbindungen und einer auf dem Stufenversatz basierenden, neu entwickelten Knotenverbindung für das Dachtragwerk möglich wurde. Dieses wurde mit einem speziell verklebten Buchenholz, der BauBuche von Pollmeier realisiert.
Partizipation und die Rolle des Einzelnen standen ebenfalls im Mittelpunkt des Fachsymposiums. Doris Gugler von Landluft – Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen stellte Prozesse vor, die letztendlich auch die Gemeinden auf den Plan rufen. Anhand baukultureller Landkarten wurde deutlich, welche Vorzeigeprojekte vorhanden sind und wo noch Entwicklungsbedarf liegt. Es brauche jedoch an einem Ort nicht immer Experten, um Baukultur umzusetzen. Vereine und Bürger hätten ebenfalls die Kraft, diese voranzutreiben. Sabrina Ginter von der Bundesstiftung Baukultur in Potsdam stellte zahlreiche Beispiele vor, die von Baukultur als Motor für die Entwicklung ländlicher Räume zeugen. Letztendlich habe Baukultur mit Mut, Wagnis und Engagement der einzelnen Akteure bis hin zu den Nutzern zu tun. Die leere Mitte von Dörfern betitelte Korbinian Kroiß von der in Wien und Berlin ansässigen Nonconform Ideenwerkstatt als Donut-Effekt. Die ringförmige Ansiedlung von Wohnraum und Infrastruktur rund um einen aussterbenden Kern erfordere drei wichtige Gegenmaßnahmen und führe zum kulinarischen Pendant, dem Krapfen-Effekt als erstrebenswertes Resultat. Es bräuchte Innenentwicklung vor Außenentwicklung, sogar mit einem Verbot weiterer Flächeninanspruchnahmen, dazu die Schaffung einer ortsspezifischen »Marmeladenfüllung« und nicht zuletzt eine Person, die sich den Belangen auf lange Sicht annimmt, den sogenannten »Ortskümmerer«. Eine erfolgreiche Umsetzung seines Büros stellt das steierische Trofaiach dar, in dem weit über die Neugestaltung des Ortskerns hinaus eine erfolgreiche Wiederbelebung erfolgte.
Den thematischen Unterbau während des Fachtages schufen Vertreter der Lehre und Politik. Sogar von einem Doppel-Donut-Effekt in von der Forschung etwas vernachlässigten Kleinstädten sprach Mark Michaeli vom Lehrstuhl für Nachhaltige Entwicklung von Stadt und Land an der Technischen Universität München. Dabei befinde sich zwischen der Mitte und der Einfamilienhausrandzone eine sogenannte Schrottzone, die eine eigene Innenstruktur erfordere. Sein Plädoyer galt dem besseren Bauen im Alltag anstatt der reinen Raumproduktion. Dafür müsse man auch Veränderungsprozesse innerhalb von Stadt und Land gestalten. Zudem lohne der Blick in die Schweiz, wo vielmehr an einzelnen Projekten gearbeitet wird und unterschiedliche Standards zugelassen werden. Matthias Schuster von der Architektenkammer Baden-Württemberg sah in seinem Vortrag Stadt und Land nicht als Antagonisten, sondern als Strukturen an, die durchaus nebeneinander bestehen können. Für eine bessere Baukultur bräuchte es eine integrierte Planung und neue Strategien, die Beteiligung von Bürgern, starke Akteure wie Gemeinderäte, Bürgermeister oder privates Engagement sowie Auszeichnungsverfahren für beispielhaftes Bauen, um über Projekte mit Modellcharakter zu weiterer Aktivität anzuregen. Alexander Schürt vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung in Bonn widmete sich der Vielfältigkeit der Wohnungsmärkte in ländlichen Räumen, lieferte eine umfassende Bestandsaufnahme der regionalen Unterschiede auf Bundesebene und definierte Ursachen für Leerstände in Schrumpfungsräumen.
Durch den Tag führte Detail-Chefredakteurin Sandra Hofmeister, die ihrerseits für Kraft und Willen plädierte, Prozesse im ländlichen Raum zu gestalten. Man stehe nicht vor der Frage, ob Holz oder Beton die Mittel der Wahl sind, sondern welche Strukturen geschaffen werden müssen, um die Entwicklung voranzubringen. Den Detail Kongress 2019 unterstützten in diesem Jahr die Unternehmen Brillux, Lignatur, Müllerblaustein, Pollmeier und Züblin sowie die Architektenkammer Baden-Württemberg, das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, die Bundesstiftung Baukultur, die Ingenieurkammer Baden-Württemberg, der Verein Landluft sowie SRL – Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung als ideelle Partner.
Im kommenden Jahr widmet sich der Detail Kongress 2020 erneut einem urbanistischen Thema und trägt beispielhafte Erfahrungen zur zukunftsfähigen Stadt unter dem Titel »Future Cities« zusammen. Ort und Datum werden Anfang 2020 bekanntgegeben.