Regionale Baukultur
Neue Architektur in Südtirol
Walter Angonese mit Flaim Prünster, Kellerei St. Michael, Abladehalle und Produktion, Eppan, 2019, © Samuel Holzner
Südtirol hat viele Sehnsuchtsorte. Doch die nördlichste Region Italiens, ihre Bergspitzen und Seen, ist viel mehr als ein beliebtes Urlaubs- und Freizeitparadies. Denn auch die aktuelle regionale Baukultur Südtirols hat viele erstaunliche Sehnsuchtsorte – und sie ist in vielerlei Hinsicht ein Modell, auch über Italien hinaus. Die aktuelle Ausstellung „Neue Architektur in Südtirol 2018–2024“ bei Kunst Meran zeigt die baukulturellen Entwicklungsprozesse der Region und spiegelt die fortschreitende gelungene Transformation der Baulandschaft Südtirols wider.
Roland Baldi Architects, Zivilschutzzentrum Ritten, 2020, © Oskar Da Riz
Die besten Projekte
Voraus ging eine umfassende Bestandsaufnahme mit über 240 Bauprojekten, die nach dem Aufruf der Architekturstiftung Südtirol und des Südtiroler Künstlerbundes für die Studie eingereicht wurden. Eine internationale Jury mit Vorsitz von Filippo Bricolo, Architekt, Dozent am Polytechnikum Mailand und Kurator der Ausstellung, wählte insgesamt 28 Hauptprojekte aus, die ausführlich dargestellt sind. Weitere 28 Special Mentions sind in reduzierter Form in die Ausstellung aufgenommen. Der Blick auf den Umgang mit Baustoffen und Ressourcen sowie der soziale Nutzen der einzelnen Bauwerke war ausschlaggebend für das Juryurteil. Das Ergebnis ist ebenso heterogen wie beeindruckend. Die kleinen und großen architektonischen Eingriffe thematisieren vernakuläre Bauformen und aktivieren das Potenzial der Erinnerung wie etwa das Servicegebäude am Kreuzbergpass von Pedevilla Architects mit Willeit Architektur oder der Zierhof mit Stube im Pflerschtal von Namaes Architekturkonzepte. Martin Feiersingers Art Library auf Schloss Gandegg bei Eppan ist in der Kategorie „Poetisches Innenleben“ aufgegriffen, die Kellerei St. Michael in Eppan von Walter Angonese und Flaim Prünster unter „Kunst und Architektur“.
MoDusArchitects, Tree Hugger, Neuer Sitz des Tourismusvereins, Brixen 2019, © Oskar Da Riz
Reflexive Vielfalt
Was vor allem überrascht ist die Vielfalt und die konzeptionelle Sorgfalt der einzelnen Projekte – jedes von ihnen ist dem besonderen Kontext verpflichtet und steht pars pro toto auch Modell für eine Baukultur auf hohem Niveau. Oft ist dabei die Topografie tonangebend, wie beim Zivilschutzzentrum Ritten von Roland Baldi Architects, das sich als mineralische Betonskulptur in den Berghang schiebt. Erdpyramiden werden die topografischen Formationen in dieser Gegend genannt – das Gebäude verstärkt die Landschafsformation und wird ein Teil von ihr. Unter den dokumentierten Projekten sind große Namen aber auch junge Gruppen wie das Architekturkollektiv null17 und andere. Der Übergang zwischen den Generationen ist fließend – das Bauen im Bestand und die Achtsamkeit gegenüber vernakulärer Architektur, all das macht Südtirols Baukultur aus.
Gibt es eine Südtiroler Architektur?
„Ja klar: Die Antwort ist einfach. Schwieriger wird es zu sagen, was sie ausmacht“, so Filippo Bricolo in seinem Essay im Katalog zur Ausstellung. Die zweisprachige empfehlenswerte Publikation (Deutsch, Italienisch, Englisch) ist sorgfältig gestaltet von Granit Studio und zeichnet auf 272 Seiten ein beeindruckendes Panorama der aktuellen Architektur in Südtirol, das andere neidisch machen kann. Die acht Kategorien der Jury sind als Kapiteleinteilungen aufgegriffen und strukturieren das Kompendium, erschienen bei Park Books. Sie geben Leserichtungen für die einzelnen Projekte vor, die mit Fotos, Texten und Grundrissen dokumentiert sind. Essays zu den Kapiteln stellen deren Schwerpunkte vor und sind auf farbigen Seiten von den Projekten abgesetzt. Der Katalog ist ein Standardwerk für Südtirol, das sich niemand entgehen lassen sollte.
Alfred Gufler, Rundweg Kirchhügel und Lesehäusl, Moos in Paseier, 2018, © Benjamin Pfitscher
Höller & Klotzner Architekten, Musealisierung Stadtmauer, Meran 2020, © Damian Pertoll
Kunst Meran
Die Ausstellung bei Kunst Meran (bis 16. Februar 2025) bespielt das gesamte historische Stadthaus in der Laubengasse. Einfache Module aus Fichtenholzrahmen in unterschiedlichen Formationen dienen als Displays für die Projekte. Sie sind mit Fotos und Plänen auf Wabenkarton dargestellt, ergänzt mit Texten auf Fichtenholztafeln. Mit so wenig nachhaltigem Material kann eine so sorgfältige, rhythmisierte Ausstellungsarchitektur entstehen, die rundherum begeistert. Die weißen Wände der Räume bleiben leer. Das Ausstellungsdesign ist ästhetisch anspruchsvoll, abwechslungsreich und jederzeit wiederverwendbar, sei es für eine nächste Station oder eine nächste Ausstellung. Der Besuch lohnt sich auch deshalb, weil Südtirol und seine Architektur hier ganz bei sich sind – in der historischen Altstadt bei Kunst Meran.
Ausstellungsort: Kunst Meran, Lauben 163, 39012 Meran (IT)
Ausstellungsdauer: 27. Oktober 2024 bis 16. Februar 2025
Publikation: „Neue Architektur in Südtirol. Architetture Recenti in Alto Adige, New Architecture in South Tyrol. 2018-2024”, hg. von Kunst Meran Merano Arte, Südtiroler Künstlerbund, Architekturstriftung Südtirol, Park Books, Zürich 2024
Weitere Informationen: Kunst Meran