03.01.2010 Hildegard Wänger

Interview mit Matteo Thun

Interview mit Matteo Thun, 2. Dezember 2009, Mailand

»Jeder Versuch, sich gegen die Natur zu stellen, ist eine Niederlage«
Obwohl gerade erst in Planung, erhielt das neue Ferienressort »Bella Vista«, das derzeit mitten im Naturpark Stilfser Joch entsteht, schon die Zertifizierung als »KlimaHotel«. Im Gespräch mit DETAIL-Redakteurin Hildegard Wänger erklärt der Architekt Matteo Thun, warum er bei seinen Projekten großen Wert darauf legt, sich die Natur zum Freund zu machen.

DETAIL: Im Oktober 2009 haben Sie auf der Hotelmesse in Bozen das neue Gütesiegel
»KlimaHotel« vorgestellt. Was genau hat es damit auf sich?

Matteo Thun: Wir machen seit ca. 15 Jahren Projekte im Bereich Touristik. Hotels für den städtischen Bereich, Businesshotels und Hotels im Bereich der Freizeit. In den letzten Jahren sind immer häufiger Dörfer beziehungsweise Ressorts, größere Konglomerate, wie Insel oder kleine Regionen hinzugekommen. Für uns bedeutet das einen Maßstabssprung. Zugespitzt durch die finanzielle Reorganisation der letzten zwei Jahre sind wir an die Grenzen der Zertifizierung von Sternen gestoßen. Das heißt, ein 3-Sterne-Hotel muss der Architekt mit einem 2-Sterne-Budget bauen, ein 4-Sterne-Plus-Hotel mit einem 3-Sterne-Budget und ein 5-Sterne-Projekt liegt 30-40 % unter dem Budget, das man dem Gast mit der Sterne-Kategorisierung verspricht. Das bedeutet, die Sterne werden zu einer internationalen Lüge. Insbesondere durch das immer häufiger verwendete Internet-Reservierungssystem will der Gast aber genau wissen, was auf ihn zukommt. Doch über die Sterne wird er bei modernen Projekten immer häufiger in die Irre geführt. Dazu kommt, dass die Qualifizierung von Sternen auch national verschieden ist. Wie soll ich wissen, ob im State Utah oder in Abu Dhabi mein 5-Sterne-Komfort wirklich ein 5-Sterne-Komfort ist. Vor diesem Hintergrund haben wir seit zwei Jahren in einem sehr breit angelegten Team einen holistischen Ansatz gestartet, den Tourismus neu zu zertifizieren. Das bedeutet, dass man die Natur im Sinne eines ökologischen Verständnisses, das Leben im Sinne eines soziokulturellen Verständnisses und die Transparenz im Sinne eines ökonomischen Verständnisses zusammenführt. Phantastisch in diesem Zusammenhang ist DGNB, die jüngste Zertifizierung, die aus meiner Sicht einen unglaublichen Qualitätssprung in der Zertifizierung hineinbringt. Sie ist unglaublich gesamtheitlich, aber auch unglaublich komplex. Das heißt, der arme Architekt, mit seinen 20 Leitzordnern ist nicht mehr in der Lage, den holistischen Ansatz voll inhaltlich zu begreifen. Wir haben mit dem KlimaHotel-Gütesiegel etwas einfaches, geamtheitliches geschaffen, das zum einen der Hotelier, zum anderen auch der Investor und der Architekt innerhalb von einem Tag verstehen kann und nicht innerhalb von einem akademischen Jahr.

DETAIL: Die Klassifizierung nach Sternen berücksichtigt derzeit keine energetischen und nachhaltigen Aspekte, sondern gibt Auskunft über Ausstattung und Serviceleistungen eines Hotels. Reicht das dem Gast nicht aus?

Matteo Thun: Mitnichten. Der Komfort des modernen Gastes ist holistisch. Der moderne Gast will wissen, woher das warme Wasser kommt. Er will wissen woher kommt das Mineralwasser, das auf dem Tisch steht, woher kommen die Tomaten und woher kommt der Kellner. Dem Gast geht es zu allerletzt um den k-Wert, den er ohnehin nicht sieht. Zu allerallerletzt geht es ihm darum, ob er in einem 24 oder 28,5 m2 großen Zimmer wohnt. Das ist das Hauptkriterium der Sterne-Zertifizierung. Vor diesem Hintergrund haben wir den Sternen den Krieg erklärt. Ob weiterhin die irreführende Anzahl der Sterne den Investor zu trickreichen Sparmaßnahmen verhilft oder dem Betreiber zu ebenso trickreichen, scheinbar höheren Erlösen, das interessiert mich überhaupt nicht mehr. Ich will einen fairen Umgang mit dem Gast.

DETAIL: Zahlreiche Standards stehen schon für die Zertifizierung von energetischen und nachhaltigen Gebäuden zur Verfügung – allein in Europa gibt es bereits rund 50 verschiedene Öko-Siegel. Was war für Sie der Anlass, ein eigenes Qualitätssiegel zu schaffen?

Matteo Thun: Es ist kein eigenes Qualitätssiegel, sondern es ist Nachhaltigkeit gesamtheitlich betrachtet. Die Zertifizierung erstreckt sich dabei auf drei verschiedene Bereiche: Natur, Leben und Transparenz. Diese weichen Maßstäbe werden in den mir bekannten Ökö- oder Biohotels nicht berücksichtigt. Die so genannten »Softfacts« werden in der KlimaHotel-Zertifizierung dahingehend berücksichtigt, dass die »Hard-facts« wie k-Wert oder technische Parameter maximal 25 % der Gesamtpunktezahl ausmachen. Auch damit bewegen wir uns in einem ganz neuen Feld.

DETAIL: Geht diese umfassende Betrachtung, die Bewertung der »Softfacts«, nicht weit über die eigentliche Bauaufgabe des Architekten hinaus?

Matteo Thun: Das Problem ist, dass das, was der Architekt im Studium lernt, und das, was er in der freien Marktwirtschaft braucht, zwei vollkommen verschiedene Paar Schuhe sind. Der Architekt, der seine Ausbildung an den meisten Schulen bekommt – und ich zähle mich auch zu diesen Unwissenden – ist in Kürze arbeitslos. Ich glaube, durch die Reorganisation in der wir uns gerade befinden, ist die Arbeitslosigkeit geradezu unausweichlich. Ich zitiere Prof. Werner Sobek aus Stuttgart, der sagt: Architekten sind in den vergangenen Jahren zu »Lifecycle-Ingenieuren« geworden. Der Lebenszyklus ist ein Netzwerk auf vielerlei Ebenen – das heißt, wir brauchen Soziologen, Psychologen, Physiker oder Chemiker und wir brauchen Künstler. Der Architekt muss zum Regisseur werden und Regieanweisungen geben. Er muss sich selbst zurücknehmen und sein »Echo« und nicht sein »Ego« in den Vordergrund stellen. Das bedeutet den endgültigen Abschied vom »Starsystem«. Wenn wir Architekten nicht das lernen können, was wir im Beruf brauchen, dann sind wir wahrscheinlich die letzte Generation von
Architekten.

DETAIL: Und woran merkt der Gast, dass er sich in einem KlimaHotel befindet?

Matteo Thun: Es gibt, glaube ich, nur einen Begriff, mit dem man das ausdrücken kann: am Wohlbefinden. Durch die KlimaHotel-Zertifizierung kann dieser eher schwammige Begriff objektiviert werden. Wohlbefinden bedeutet zum Beispiel, dass Sie Wasser trinken, das aus der Erde kommt auf der das Haus steht, dass das Holz aus nächster Umgebung kommt und dass der Kellner, mit dem Sie sprechen, die Sprache des Orts spricht und nicht aus Usbekistan kommt. Dass die Tomaten aus dem eigenen Garten sind und dass zum Beispiel ein mikroklimatisches Verständnis da ist, um das Gebäude richtig zu positionieren. Die Feststellung des Mikroklimas ist einer der Startpunkte für alle unsere Arbeiten. Wir müssen die lokalen Winde kennen, die Jahreszeiten kennen. Wo geht die Sonne auf, wo geht sie unter, wo kommt der Regen her, wie ist der Schatten, den das Gebäude spenden wird? Alle diese Dinge führen unter dem Strich zu einem Parameter: dem Wohlfühlen.

DETAIL: Das ist es, was Sie bei Ihren Projekten als »Genius Loci« – als »Geist des Ortes« bezeichnen?

Matteo Thun: Ja genau, daher unterscheidet sich ein Cityhotel von einem Alpenhotel. Man sollte nicht gegen die Natur gewinnen, sondern mit ihr arbeiten.

DETAIL: Die Fertigstellung des ersten zertifizierten »KlimaHotels« ist für Ende 2011 geplant. Im Naturpark Stilfser Joch, im Ort Trafoi, entsteht ein neuer Hotelkomplex. Sicher keine leichte Bauaufgabe – wie sind Sie an
die Planung herangegangen?

Matteo Thun: Die Planung war einerseits sehr einfach, weil der Bauherr, der Skirennläufer Gustav Thöni, der erfolgreichste Südtiroler aller Zeiten ist – ein echter Star, vielleicht einer der letzten Sport-Superstars. Er hat soviel gewonnen, wie kein anderer und das mit dem reinen Gefühl, ohne Chemie und ohne technische Tricks – er war schlicht und einfach schneller als seine Mitbewerber. Dieser Mann hat ein ganz solides Verständnis von seiner Heimat. Das bereits bestehende Hotel »Bella Vista« ist ein Familienhotel. Gustav Töni möchte es dahingehend erweitern, dass sich ein Kleinkind ebenso wohlfühlt wie ein Fünfjähriger oder ein Fünfzehnjähriger mit Eltern, Onkels und Tanten. Das heißt, das Profil Bella Vista ist durch den Besitzer extrem klar vorgezeichnet. Die Planung selbst ist natürlich ein langwieriger Prozess, der auch noch nicht ganz abgeschlossen ist. Aber wir werden mit einem sehr bescheidenen Budget hoffentlich eine sehr gute Arbeit machen. Die Bescheidenheit gehört in diese Bergregion. In einem Naturpark sollte man eigentlich nicht bauen – vor diesem Hintergrund wollen wir beispielsweise die fünfte Fassade, das Dach, komplett in die Natur integrieren. Das heißt, es bleibt die Weidefläche für die Hirsche und Rehe, die am Morgen zum Grasen kommen ebenso erhalten wie die Spielwiese für die Kinder. Die Architektur ist definiert durch die Natur. Jeder Versuch, sich gegen die Natur zu stellen, wäre eine hoffnungslose Niederlage.

DETAIL: Ursprünglich bedeutet »Nachhaltigkeit«, nicht mehr Rohstoffe zu verbrauchen, als in der gleichen Zeit nachwachsen. Wie übertragen Sie diesen Grundsatz auf die Planung eines nachhaltigen Gebäudes?

Matteo Thun: Die ursprüngliche Bedeutung lässt sich nicht eins zu eins auf die Architektur übertragen. Nachhaltig zu planen bedeutet für mich vielmehr, ein Gebäude zu schaffen, an dem man sich auch nach Jahrzehnten noch nicht satt gesehen hat. Das ist mir viel wichtiger als der k-Wert eines Gebäudes. Die gesamtheitliche Betrachtung eines Projekts gehört für mich unbedingt zur Nachhaltigkeit. Ich bin beispielsweise kein Freund von PV-Modulen auf dem Dach oder an der Fassade, auch wenn diese die Energiebilanz eines Gebäudes positiv beeinflussen können. Wir verwenden meist Geothermie, weil sich damit genauso gute Ergebnisse erzielen lassen – ohne die Optik zu zerstören.

DETAIL: Bedeutet das für die Zukunft der Architektur eine Reduktion der Entwurfsarbeit und Planung auf energetische Aspekte?

Matteo Thun: Für uns sicher nicht. Nicht ohne Grund berücksichtigen nur 25 % der KlimaHotel-Zertifizierung die technischen Aspekte der Energiebilanz eines Gebäudes. Andere Faktoren wie die ökonomische Nachhaltigkeit sind uns genauso wichtig. Dazu gehört beispielsweise die Vorfertigung von Konstruktionselementen im Holzbau. Für uns bedeutet das nicht eine Reduktion, da wir uns als Architekten immer schon mit der Tradition auseinandersetzen mussten.

DETAIL: Wie gelingt es, Nachhaltigkeit und gutes Design miteinander zu verbinden?

Matteo Thun: Der ästhetische Mehrwert von Produkten im kleinen Maßstab Design und im großen Maßstab Architektur hat, glaube ich, auch mit der Ausbildung zu tun. Wir
sind noch nicht trainiert auf Subtraktion, insbesondere auf die semantische Subtraktion, die Subtraktion der Sprache. Wohlgemerkt, das bedeutet nicht Minimalismus. Ganz im Gegenteil. Es bedeutet eine haptische sensorielle Welt aufzubauen, die nur funktioniert und zu den Sinnen des Menschen spricht, wenn sie ganz, ganz einfache Formen hervorbringt. Sonst haben wir eine Überlagerung der Formsprache und der Sensorialität. Warum ist Mies van der Rohe einer der ganz großen Halbgötter des vergangenen Jahrhunderts? Sein Vater war Steinmetz und hatte eine Steingrube, So hat er als Kind die Sensorialität des Steines asimmiliert und konnte sich durch die Sensorialisierung diese unglaubliche Einfachheit und damit zeitlos gültige Sprache aneignen. Louis Kahn, Saarinen, LeCorbusier, Gropius, die ganz großen des vergangenen Jahrhunderts – sie alle beherrschen die Fähigkeit der Subtraktion. Nicht »less is a bore«, sondern »less is more«.

DETAIL: Ihre Architektur ist mit der sehr speziellen Bauaufgabe »Hotel« sehr eng verbunden. Was ist für Sie das Besondere daran, ein Hotel zu planen?

Matteo Thun: Im Hotel kann man das Prinzip der Mailänder Schule am Besten nachvollziehen. Die Mailänder Architekten haben seit 50 Jahren eines gemeinsam: Sie bearbeiten den kleinen und den großen Maßstab simultan. Das heißt, wenn du ein Hotel planst, dann musst du zeitgleich – und das geschieht hier täglich im Studio – als Architekt, Innenarchitekt, Lichtplaner und Möbeldesigner an einem Tisch sitzen können. Du musst dich im Sinne eines sozialverträglichen Prozesses dem Projekt unterordnen.

DETAIL: Sind Sie gerne als Gast in »Ihren« Hotels?

Matteo Thun: Nein. Jeder Architekt entwickelt eine Hassliebe zu seinen Projekten, weil er im Unterschied zum Hotelnutzer ausschließlich die vielen kleinen Fehler sieht. Das Ergebnis sind Kleinirritationen, die der Entspannung und dem Wohlfühlen entgegen wirken. Außerdem interessieren mich natürlich andere Hotels. Wenn ich mehrere Tage in einer Stadt bin, wechsle ich sogar jede Nacht das Hotel, um möglichst viele verschiedene Eindrücke zu bekommen.

DETAIL: Wird künftig jedes von Ihnen geplante Hotel ein KlimaHotel sein?

Matteo Thun: Ich wünsche es mir.

Herr Thun, wir bedanken uns für dieses interessante Gespräch.

Der Architekt und Designer Matteo Thun im Gespräch mit DETAIL in seinem Mailänder Studio.

Foto: Matteo Thun & Partners

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