04.07.2013 Peter Popp

Hyperrealistische Land Art: Forschungs- und Erlebniszentrum in Schöningen

Die Schöninger Speere sind mit einem Alter von etwa 300.000 Jahren die bisher ältesten erhaltenen Jagdwaffen der Menschheit. Am Rande der Stadt Schöningen und des Braunkohletagebau Schöningen, befindet sich die archäologische Fundstelle dieser Weltsensation aus der Steinzeit. Am 24. Juni 2013 eröffnete hier das von weitem sichtbare Forschungs- und Erlebniszentrum Paläon. Das von Holzer Kobler Architekturen entworfene Gebäude bildet eine Landmarke in der leicht hügeligen Landschaft, die sich in der reflektierenden Außenhaut spiegelt. Im Mittelpunkt des zeichenhaften Projekts steht die archäologische Erlebnis-Ausstellung, die Originalfunde in einer eindrucksvollen Inszenierung präsentiert. Architekten: Holzer Kobler Architekturen, Zürich/Berlin in Zusammenarbeit mit pbr AG, Generalplaner, Braunschweig
Landschaftsarchitektur: Topotek 1, Berlin
Standort: Paläon 1, 38364 Schöningen

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Horizontal geschichtet erhebt sich der dreigeschossige Baukörper über die natürliche Topografie und kennzeichnet den Ort als bedeutende Fundstelle der Archäologie. Die expressiv anmutende Gebäudeform setzt zwar einen scharfkantigen Kontrapunkt inmitten der sanft gewellten Landschaft. Die formal sich dadurch anbahnende Konfrontation, verharrt jedoch im Konjunktiv: Gesprächsbereitschaft signalisiert eine metallisch reflektierende Außenhaut. Sie hüllt das gesamte Gebäude ein und tritt in einen geduldigen Dialog mit den Stimmungen und Farben der umgebenden Natur, die sich in ihrer Oberfläche spiegelt. Die Architekten selbst sprechen von einer »Camouflage, einer hyperrealistischen Abstraktion der Landschaft«.

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Die Gestaltung der Außenanlagen ist durch zwei komplementäre Formensprachen gekennzeichnet: eine landschaftlich ausformulierte neu geschaffene Parklandschaft eines warmzeitlichen Zyklus der Urzeit und in die durch das Gebäude stark architektonisch geprägten Zugangs- und Aufenthaltsflächen. Im Osten bedeckt ein geschlossener Wald nahezu die Hälfte der Fläche des Geländes. Im Westen und das Paläon umgebend, erstrecken sich offene lichte Wälder, Wiesen und ein See, welche zudem das Gehege für die Wildpferde aufnehmen. Ein geschwungenes Wegenetz führt den Besucher an besondere Aussichtspunkte, leitet ihn an Attraktionen vorbei und stellt notwendige Verbindungen her.

Lageplan: Topotek 1

Die Erlebnis-Ausstellung mit der Präsentation der Originalfunde aus Schöningen formt das Herzstück des Projekts. Einprägsame Bilder sprechen den Besucher auf sinnliche und emotionale Weise an. Vermittelt werden neue Erkenntnisse über unseren Urahnen, den Homo erectus, seinen Alltag und wie die Fauna und Flora damals vor rund 300.000 Jahren ausgesehen hat, ebenso wie Bezüge zu aktuellen Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit.

Schnitt: Holzer Kobler Architekturen

Höhepunkt des Ausstellungsrundgangs ist die „Speerekapelle“, die die 1994 gefundenen, weltweit einzigartigen steinzeitlichen Holzspeere von Schöningen präsentiert. Zum Abschluss sollen die dramatischen Jagdereignisse am Schöninger See vor 300.000 Jahren im Panoramakino emotional erlebbar gemacht werden. Nach dem Hauptausstellungsraum und dem Queren des Foyers in luftiger Höhe können Besucher im Forschungsbereich die laufenden archäologischen Ausgrabungsarbeiten miterleben oder in einem Labor ihre archäologischen Fähigkeiten testen.

Grundriss EG: 1 Foyer, 2 Caféteria, 3 Shop, 4 Garderobe, 5 Vortragsraum, 6 Lager, 7 Technik, 8 Küche, 9 WC
Grafik: Holzer Kobler Architekturen

Grundriss 1. OG: 1 Galerie, 2 Besucherlabor, 3 Arbeitsraum, 4 Restaurierung, 5 Fundmagazin, 6 Lager, 7 Eingangsmagazin, 8 Büro, 9 WC, 10 Museumspädagogik, 11 Archiv, 12 Teeküche
Grafik: Holzer Kobler Architekturen

Grundriss 2. OG: 1 Dauerausstellung, 2 Sonderausstellung, 3 Lager
Grafik: Holzer Kobler Architekturen

Das Paläon ist mit einer reflektierenden Gebäudehaut aus Aluminium-Verbundplatten bekleidet. Die spiegelnden Platten mit einer Stärke von 4mm bestehen aus zwei Aluminium-Deckblechen mit einem Kunststoffkern und sind fest mit der Unterkonstruktion verklebt. Sie umhüllen das Gebäude vollständig und werden sowohl für die hinterlüftete Fassade als auch die Untersichten an Versprüngen und außenliegenden Deckenflächen eingesetzt.

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Im Zentrum der auf 600 m² inszenierten Dauerausstellung steht ein skulpturaler, in weiß gehaltener Ausstellungskörper, dessen Form sich an die Struktur von Pferdeknochen anlehnen soll. Durch Vergrößerung und Abstraktion entsteht ein Raum greifendes Element mit aneinander gereihten Themen-Kabinetten und Blickachsen im Wechselspiel mit großformatigen künstlerischen Arbeiten.

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Den Auftakt zum Rundgang formt das dreigeschossige Foyer in der Mitte des Gebäudes, das alle Sichtachsen nach außen miteinander verbindet. Der hohe Raum schafft Blickbeziehungen zu den Forschungs- und Ausstellungsbereichen in den beiden Obergeschossen und ermöglicht Ausblicke in das Braunkohleabbaugebiet. Im Foyer starten und enden alle Wege: Sämtliche Funktionen, wie Ausstellung, Pädagogik, Verwaltung, Restaurant oder Shop sind von hier aus erreichbar. Eine einläufige Doppeltreppenanlage in kräftigem Rot führt in die beiden Obergeschosse. An der über alle drei Geschosse reichenden, gegenüberliegenden Wand führen geologische Lackprofile aus den geologischen und archäologischen Schichten der Grube in die Urgeschichte ein.

Die rote, einläufige Treppe setzt einen kräftigen Farbakzent im Foyer. © Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Mit dem neuen Forschungs- und Erlebniszentrum Paläon haben die Schöninger Speere eine ihrer epochalen Bedeutung adäquate Heimat erhalten. Die reflektierende Außenhaut des markant in Szene gesetzten Baukörpers bildet eine perfekte Oberfläche für »steinzeitlich« inspirierte Assoziationssplitter: Speere, Wind und Wolken materialisieren und bewegen sich auf einer spiegelnden Fassade, die ihrerseits das kubisch gefaltete Gebäudevolumen nahezu verschwinden lässt - Geschichtserfahrung als visuell motivierter Spagat zwischen bildhafter Metaphorik und informeller Abstraktion. Peter Popp
Bruttogrundfläche BGF: 4.090 m²
Ausstellungsfläche: 600 m²
Gelände inkl Außenanlagen: 240.000 m²

Bauherr: Stadt Schöningen
Nutzer: paläon GmbH
Kuration: Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege Ausstellungsgestaltung und -grafik: Holzer Kobler Architekturen, Zürich/Berlin Medienplanung: Jangled Nerves, Stuttgart
Lichtplanung: Lichtvision Design & Engineering GmbH, Berlin
Ausstellungsbau: Seiwo Technik GmbH, Bel-Tec Gesellschaft für Film-, Theater- und Ausstellungsbau mbH
Objekteinrichtung und Exponathalter: id3d-berlin gmbh

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

Die schräg verlaufenden, 1,25 oder 1,00 Meter breiten und 3,00 Meter langen Fassadenplatten sind zu verschieden ausgerichteten Fassadenfeldern zusammengefasst, die das topografische Motiv geschichteter Ebenen als verfremdetes Artefakt auf die Gebäudehülle applizieren. So entsteht ein homogener, skulpturaler Baukörper, der sich als spannungsvolles Element in die Landschaft einschreibt. Großformatige, scharf eingeschnittene Fensteröffnungen muten wie Schatten auf der Fassade an und verleihen dem Gebäude eine dynamische Plastizität. Sie inszenieren den Ausblick in die nahe Waldlandschaft, sowie zum entfernten Tagebau und zur Fundstelle.

© Holzer Kobler Architekturen, Foto: Jan Bitter

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