Für eine Ressourcenwende an den Hochschulen

Kerstin Müller, © Johanna Bossart

Kerstin Müller, Geschäftsführerin von Zirkular, ist langjährige Expertin im zirkulären Bauen und seit 2022 Gastprofessorin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Im Interview berichtet sie aus ihren Erfahrungen mit der Lehre und beschreibt die Potenziale und neuen Berufsbilder, die auf dem Weg in die Kreislaufgesellschaft entstehen.

Das Gespräch ist Teil einer Interviewreihe, die in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“ der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart erschienen ist. In den kommenden Wochen veröffentlichen wir weitere Interviews aus der Reihe.

Du hast mit dem Baubüro in situ bereits 2013 begonnen, dich mit zirkulärem Bauen zu beschäftigen. Wo stehen wir bei diesem Thema aktuell?
Im Moment ist zirkuläres Bauen in aller Munde, aber tatsächlich umgesetzt wird noch recht wenig. Einige Büros setzen sich in einzelnen Projekten damit auseinander, rennen aber gegen Hürden, weil wir in einem System stecken, das einfach nicht auf Kreislaufwirtschaft ausgelegt ist. Da ist nichts dafür gemacht – weder die Normen und Gesetze noch die Rahmenbedingungen und Anreize. Das müssen wir jetzt in einer akribischen Kleinarbeit Stück für Stück angehen und umstrukturieren. Es gilt ein System umzubauen, dass sich über Jahrzehnte eingeschliffen hat.

2021 stockte das Baubüro in situ die Lagerhalle K.118 in Winterthur um einen Kopfbau aus wiederverwendeten Bauteilen auf. © Martin Zeller

Wir benötigen also regulatorische Anpassungen, um in die Breite zu kommen?
Das eine sind die Normen und Gesetze, aber es geht auch um die CO2-Bepreisung und den Abfall, den wir produzieren. Solange ein privater Investor fast nichts dafür bezahlen muss, seinen Abfall in der Luft oder im Boden zu entsorgen, obwohl wir eine Klimakrise und keinen Deponieraum mehr haben, wird der Wandel schwierig. Die wahren Kosten, die Umweltschäden werden vergesellschaftlicht oder in Drittländer verlagert. Es gibt im Moment für einen klassischen Investor keinen Grund, kreislaufgerecht zu bauen – es sei denn man erhofft sich einen Marketingvorteil, etwa durch eine Nachhaltigkeitszertifizierung.

Zirkular ist aus in situ hervorgegangen. Wie grenzen sie sich voneinander ab?
Im Grunde sind wir sogar vier Geschwisterfirmen und alle vier sind auf ihre Art damit beschäftigt, mit dem Bestand zu arbeiten oder den Bestand zu erhalten. Denkstatt macht Projekt- und Stadtentwicklung; Unterdessen übernimmt Organisation, Beratung und Bewirtschaftung von Zwischennutzungen; Bauen übernimmt das Baubüro in situ und das jüngste Kind ist seit zwei Jahren eben Zirkular. Da geht es um Kreislaufwirtschaft und Bauen im Kreislauf.

Was bedeutet das genau? 
Die höchste Form des Kreislaufes sehen wir im Erhalt und Weiterbau am Bestand. Auf kleinerer Ebene geht es auch darum, Bauteile und Materialien zu erhalten, ihren Lebenszyklus zu verlängern. Also Leben verlängern und den Kreislauf verlangsamen, da dieser immer mit Verlusten verbunden ist.  Manchmal werden wir zu Begehungen eingeladen, um wiederverwendbare Bauteile zu identifizieren. Wir schauen aber nicht nur auf Bauteile, sondern auf das ganze Gebäude. Auf diese Weise ist uns schon gelungen, Gebäude vor dem Abriss zu retten, weil wir argumentieren konnten, dass die Struktur umnutzungsfähig ist oder dass man auch durch einen Teilrückbau zum Ziel kommen kann.

Im Nordwesten von Basel hat das Baubüro in situ 2021 ein Coop-Verteilzentrum zum Gewerbe- und Kulturhaus Elys umgebaut. Die Fassaden bestehen fast komplett aus wiederverwendeten Materialien. © Martin Zeller

Seit 2022 bekleidest du eine Gastprofessur am KIT zum Thema Sustainable Materials for a new Architectural Practice – Entering a circular economy. Welcher Auftrag ist damit verbunden?
Der Auftrag war nicht strikt vorgegeben, wir hatten alle Freiheiten. Für uns geht es um die Umsetzung kreislaufgerechten Bauens auf der Gebäudeebene unter Einbezug bestehender Gebäude, Bauteile und Materialien. Die Wiederverwendung als Teil der Lösung für die Frage, wie klima- und planetengerechtes Bauen aussehen kann.

Wie würde das auf die Hochschulpraxis bezogen aussehen?
Im ersten Semester der Gastprofessur haben wir mit der Stadt Karlsruhe zusammengearbeitet. Unter anderem haben wir einen Rückbauworkshop gemacht in einer Liegenschaft der Stadt, einem Wohnbau aus den 50er-Jahren. Da sind wir mit Hammer, Helm und Meißel reingegangen und haben geschaut, was wir dort an Materialien retten können. Erst theoretisch im Kopf, dann praktisch mit den Händen. Das war nicht so einfach, weil es sich um typische Nachkriegsgebäude handelt, bei denen man bis zur Erstellung und nicht weitergedacht hat. Viele Dinge sind nicht oder nur unter extremem Aufwand zerstörungsfrei rückzubauen. Aber das ist für mich pädagogisch ein traumhaftes Werkzeug, weil die Studierenden merken, dass es ganz schön frustrierend sein kann und, dass kreislaufgerechtes Bauen so nicht funktioniert. Daraus ergibt sich hoffentlich die Motivation, selbst besser zu planen.

Projekt Elys in Basel: Die Trapezblechverkleidung der Dachgeschosse schmückte ursprünglich die Fassaden eines nahe gelegenen Weinlagerhauses. © Martin Zeller

Lernen die Studierenden auch, wie das Material wiederverwendet werden kann?
Ja, wir haben auch eine Schule besichtigt, für die ein Wettbewerb gemacht und befunden wurde, dass man sie abreißen müsse, weil sie nicht sanierungsfähig sei. Wir sind dann dort hin und haben alles katalogisiert, was wir gefunden haben: Stahlträger, Fenster, Bodenplatten und Treppenstufen. Anschließend haben wir eine Website gestaltet, wie wir sie bei Zirkular als Grundlage für städtische Wettbewerbe erarbeitet haben. Die Materialien, die wir katalogisiert haben, bildeten dann den Grundstock für ein Neubauprojekt der Stadt Karlsruhe, bei dem die Studierenden die Bauteile wieder eingeplant haben.

Zahlreiche Interviewpartnerinnen haben uns geschildert, dass es in Bezug auf zirkuläres Bauen viel Unwissenheit gebe. Was muss sich in der universitären Ausbildung ändern?
Kreislaufgerechtes, klimagerechtes Bauen sollte fundamentaler Bestandteil aller Lehrstühle werden. Nicht ein Thema, das nebenbei an einem Lehrstuhl platziert wird.  Das sind die Fragestellungen, die die heutigen Studierenden in ihrer ganzen Karriere beschäftigen werden. Das ist die Welt, in die sie nach dem Studium hinausgehen werden.

Selbst Betonfundamente lassen sich wiederverwenden – hier an einem Werkstattgebäude der Schweizerischen Bundesbahnen in Zürich. © Martin Zeller
In der Forschungseinheit Sprint in Dübendorf bestehen die Bürotrennwände teils aus alten Lehrbüchern. © Martin Zeller

Aus deiner Erfahrung heraus: Fördert zirkuläres Bauen die lokale Wirtschaft?
Wir merken, dass die Wiederverwendung und das zirkuläre Bauen das lokale Wirtschaften extrem fördert und stärkt. Wenn wir mit Unternehmen arbeiten, dann reden wir sehr viel mit ihnen, weil sie die Fachmenschen sind für dieses spezifische Gewerk, Material oder Bauteil. Wenn wir Fenster anschauen, nehmen wir immer Fensterbauer mit und fragen sie nach ihrer Einschätzung. Wenn möglich, bitten wir sie, diese auszubauen, zu lagern und wieder einzubauen. Plötzlich gibt es also eine Erweiterung des eigenen Geschäftsmodells. Dadurch entsteht schließlich auch ein Anreiz, Teil dieses Wandels zu sein anstelle dagegen zu lobbyieren.

So entsteht eine neue lokale Wertschöpfungskette. Das ist eine tolle Perspektive.
Und neue Berufe. Es gibt neue Qualifizierungen, neue Skills. Auch das muss man alles lernen. Und ich sehe einfach, dass da sehr viele Menschen mitmachen wollen. Wie gesagt, viele Menschen haben die Problemstellung verstanden, sie wollen Teil der Lösung werden.

Am Forschungsgebäude Nest in Dübendorf realisierte das Baubüro in situ eine experimentelle Büroeinheit aus wiederverwendeten Materialien - einschließlich der PV-Module in der Fassade. © Martin Zeller

Ihr selbst habt zwei neue Berufe entwickelt: Fachplaner Re-use und Bauteiljägerin. 
Wir haben sogar noch mehr. Ich habe eine Folie, auf die ich immer neue Berufe schreibe. Da mache ich mir einen richtigen Spaß daraus. Im Grunde sind das neue Wissensfelder, die sich auftun, die erkundet werden wollen. Beispiel Bauingenieurin für Rückbau. Oder Bauleitung for Design for Disassembly. Ich kann am Schreibtisch schön rückbaubare Verbindungen zeichnen, aber wenn sie auf der Baustelle dann wieder mit der Schaumdose kommen, dann war‘s das. Oder Bauphysik, die mit Toleranzen und Unsicherheiten umgehen kann. Wenn wir Dämmmaterialien haben oder Fenster, bei denen man nicht sicher weiß, wie hoch der Lambda-Wert oder U-Wert ist, dann muss ich damit umgehen können.

Kerstin Müller ist seit 2020 Geschäftsführerin von Zirkular, einem Schweizer Fachplanungsbüro für das Bauen im Kreislauf. Davor war sie Mitglied der Geschäftsleitung des Baubüro in situ in Basel. Darüber hinaus ist Kerstin Müller Vorstandsmitglied des Vereins Cirkla Schweiz, der die Wiederverwendung von Bauteilen fördert. Derzeit hat sie am Karlsruher Institut für Technologie eine Gastprofessur inne.


Das komplette Interview wurde zuerst veröffentlicht in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“
Verfasser/-innen:
Markus Weismann, asp Architekten
Marcus Herget, Marcus Herget Beratungsunternehmen
Nadine Funck, asp Architekten
Raphael Dietz, asp Architekten


Auftraggeberin: Wirtschaftsförderung Region Stuttgart
Die Publikation untersucht, inwieweit zirkuläres Bauen bereits am Markt angekommen ist, welche Potenziale sich dadurch ergeben und wie diese besser ausgeschöpft werden können. Die 15 Experteninterviews zeigen dabei die unterschiedlichen Perspektiven aus Wirtschaft, Politik, Architektur, Wissenschaft und Bauherrinnen auf.
Download: Zirkuläres Bauen in der Praxis

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