Nachhaltig saniert
Eine Hommage an das Paris der Hippie-Generation
Mixed Use-Gebäude mit offenen Raumlandschaften in Paris, © Hervé Abbadie
Jacques Moussafir veredelt ein Stadthaus aus den 1970er-Jahren in ein raues und dennoch schickes Mixed Use-Gebäude mit offenen Raumlandschaften. Die künstlerisch gestalteten Glasfassaden bringen viel Licht in die tiefen Grundrisse und machen das früher unscheinbare Gebäude zum Hingucker inmitten der historischen Bebauung.
Der Ganzglasfassade ist ein Vorhang aus gelochtem PVC vorgesetzt. © Hervé Abbadie
Als die Architekten Biro & Fernier in den 1970er-Jahren die Baulücke mit der Hausnummer 5 mit ihrem Stahlbetonbau füllen, ist die Rue Vertbois, noch eine typische Seitenstraße ganz im Norden des im beliebten Stadtteils Marais. Das Gebäude zeigte sich zur Straßenseite zurückhaltend bis unscheinbar mit einer Lochfassade. Das Grundstück nutzen die Architekten schon damals maximal aus. Drei Untergeschosse, das Erdgeschoss und sogar das erste Obergeschoss reichen bis an die Grundstücksgrenze unter den begrünten Innenhof. Dort sorgen Lichtkuppeln und ein in Sichtbeton plastisch aufgewölbtes Oberlichtband für reichlich Tageslicht. Das Gebäude weist den üblichen Nutzungsmix auf: Gewerbeflächen im Sockel, darüber Büros und Wohnungen. Inzwischen hat sich die Rue Vertbois zu einer der hippsten Straßen im Marais verwandelt. Kunstgalerien, Designerläden, Edelboutiquen und Sternerestaurants haben die alteingesessenen Läden verdrängt. Dennoch hat die Straße ihren Charme bewahrt.
Stahlbeton: Nachhaltig, robust, flexibel
Für Jacques Moussafir war die Hausnummer 5 der ideale Standort, um hier von 2013–2022 sein Architekturbüro, die eigene Wohnung für seine Familie und Mietwohnungen für Künstlerinnen und Künstler einzurichten. „Es war eine einzigartige Gelegenheit mitten in der historischen Bebauung ein Objekt zu finden, das keinerlei Auflagen durch den Denkmalschutz unterworfen ist und gleichzeitig diese Qualitäten aufweist“ schwärmt der Architekt noch heute, kurz vor den letzten Feinarbeiten am Innenausbau seiner Wohnung. „Heute wird Stahlbeton wegen der schlechten CO2-Bilanz des Zements kritisiert. Der große Vorteil von Stahlbeton ist aber seine Robustheit. Wir konnten ohne zusätzliche statische Ertüchtigungen die Haupttreppe verlegen und als Stahlkonstruktion einfach von den Betonwänden abhängen. Durch diese konstruktive Flexibilität sind Stahlbetonbauten über Jahrzehnte sehr nachhaltig.“
Showroom Erdgeschoss, © Hervé Abbadie
Vive le Brutalisme
Moussafir lässt nur wenige Bauteile rückbauen wie die niedrige Brüstung der Bürofassade zum Innenhof, die er als Ganzglasfassade komplett öffnet. In den Wohngeschossen darüber nutzt er die vorhandene Brüstung als Unterzug auf die er auskragende vollverglaste Erker aufsetzt, die die Räume heller und großzügiger machen. Ansonsten feiert der Architekt den Beton des Bestands als raue sichtbare Oberfläche. Das kommt am deutlichsten bei der Innenansicht der Dachschrägen mit scharf ausgeschnittenen Gauben im 6. Obergeschoss zum Ausdruck, aber auch bei den Pfosten der Straßenfassade, die er wie Spolien vor der Ganzglasfassade stehen lässt. Im unterirdischen Obergeschoss des Showrooms bringt er die bestehende zum Oberlichtband aufgewölbte Stahlbetondecke zum Schweben, indem er die umgebenden groben Natursteinwände durch künstliches Streiflicht inszeniert.
Die Ganzglasfassade zur Straße bringt viel Licht in die Räume. © Hervé Abbadie
Hoffassade, © Hervé Abbadie
Kunsthandwerk
Als Kontrast zum Bestand aus Sichtbeton setzt Jacques Moussafir künstlerisch gestaltete haptische Oberflächen in den Innenräumen und an den Fassaden. Die Ganzglasfassade zur Straße bringt viel Licht in die Räume. Um Blendung zu vermeiden und für die Schlafzimmer die Privatsphäre zu sichern, beauftragte er die international renommierte Gestalterin Petra Blaisse, die unter anderem durch ihre Arbeiten für Rem Koolhaas bekannt ist, mit dem Entwurf für eine vorgesetzte Vorhangfassade. Das Ergebnis umfangreicher Studien ist ein Vorhang aus gelochtem PVC, der sich in horizontalen Schienen automatisch auf -und zufahren lässt. Die Schreinerarbeiten, wie die Holzdecke im Bürogeschoss hat der Vorarlberger Kunsttischler Martin Bereuter ausgeführt, den Moussafir von seinen Holzmodellen für Peter Zumthor kennengelernt hat.
Bürogeschoss mit Holzdecke des Vorarlberger Kunsttischlers Martin Bereuter, © Hervé Abbadie
Wohnlandschaft wie in den Seventies
Die obersten drei Geschosse sind der Wohnung des Architekten vorbehalten. Über den Schlafzimmern ist das Wohn-Esszimmer durchgesteckt: Die offene Ebene mit zentraler runder Küchentheke erweitert sich zur Straße auf eine bestehende Dachterrasse. Nach Süden zur Hofseite schließt sich der zweigeschossige Luftraum an, der als Erker über die Baulinie des Bestands auskragt. Über eine Spindeltreppe kommt man ins Dachgeschoss, das als Bibliothek und Arbeitsraum genutzt wird. Einen Ausblick über die Dächer von Paris bietet schließlich die Terrasse ganz oben über der Mansarde.
Im Dachgeschoss befindet sich eine Bibliothek und ein Arbeitsraum. © Vincent Leroux
Flexibilität durch getrennte Erschließung
Bereits kurz nachdem Moussafir Architectes ihre Büroräume im Sockel bezogen hatten, mietete ein internationales Modelabel den gesamten Gewerbebereich und anschließend die Büroflächen im ersten Obergeschoss. Die komplexe Raumaufteilung mit jeweils getrennter Erschließung machte es möglich, dass der Architekt im Untergeschoss mit Tageslicht zum tiefer gelegten Eingangshof interimsweise seine Büroräume einrichten konnte.
Mehr dazu in Detail 9.2023 und in unserer Datenbank Detail Inspiration.
Architektur: Moussafir Architectes
Bauherr: Sci du Bois-Vert
Standort: 5 rue du Vertbois,
Paris (FR)
Vorhangfassade
: Inside/Outside Petra Blaisse mit Peter Niessen und Nafsika Efklidou
Tragwerksplanung: Malishev Wilson
TGA-Planung: Bet Louis CouletAubière
Baumanagement: BTP Consultants