Interview mit Christine Lemaitre von der DGNB
Ein Gebäude ist keine Waschmaschine
Christine Lemaitre, © DGNB
Alle reden darüber – doch in der alltäglichen Baupraxis ist die Kreislaufwirtschaft noch nicht wirklich angekommen, sagt Christine Lemaitre von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Das hat viele Gründe: von überzogenen Erwartungen über falsch gesetzte Preissignale bis zu Regularien, die der Komplexität des Bauens nicht gerecht werden.
Das Gespräch ist Teil einer Interviewreihe, die in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“ der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart erschienen ist. In den kommenden Wochen veröffentlichen wir weitere Interviews aus der Reihe.
Die DGNB hat einen Gebäuderessourcenpass erarbeitet. Wie hat sich das ergeben?
Das Thema Gebäuderessourcenpass steht im Koalitionsvertrag der Bundesregierung – ohne weitere Ausdifferenzierung, was das eigentlich sein soll. Inzwischen ist zum Glück sowohl in der Politik als auch in der Branche durchgedrungen, dass es wichtig ist, daten- und faktenbasiert zu agieren und auch Informationen darüber zu haben, was eigentlich verbaut wird, um einschätzen zu können, wie man später mit dem Gebäude umgeht. Wir als DGNB, die wir aus dem Bereich der Zertifizierung kommen, haben deshalb einen Vorschlag erarbeitet, wie so ein Pass aussehen könnte.
Concular und Madaster erarbeiten ebenfalls einen Gebäudepass. Gibt es da einen Austausch mit euch oder arbeitet ihr sogar zusammen?
Ja, beide Unternehmen sind in unserem Fachbeirat vertreten, kennen den Entwurf und haben ihn mitentwickelt. Beide sind dabei diesen Gebäuderessourcenpass in ihre Tools vollständig zu integrieren. Gleiches gilt für weitere Akteure am Markt. Unser Gebäuderessourcenpass ist neutral, wurde transparent erarbeitet und steht übergeordnet für alle zur Verfügung. Wir hoffen, dass es dadurch zu einer einheitlichen Sprache bei den Themen Material, Ressourcen und Zirkularität im Bauen kommt.
CO2-Emissionen im Lebenszyklus eines Gebäudes. Die grauen Emissionen der Errichtung, Sanierung und des Rückbaus können mit einem klimapositiven Betrieb im Zeitverlauf ausgeglichen werden. © DGNB
Was stört dich an der Art und Weise, wie über zirkuläres Bauen gesprochen wird?
Was mir bei Diskussionen und Vorträgen immer fehlt, ist die Verortung auf der Zeitachse. Es ist ein großer Unterschied, ob ich es heute mit einem Bestandsgebäude zu tun habe, aus welchem ich gegebenenfalls Materialien weiter- und wiederverwenden kann, oder ob ich heute ein neues Gebäude mit neuen Produkten und Materialien baue. Die Möglichkeiten und Anforderungen sind total verschieden.
Inwiefern?
Man kann heute nach bestem Wissen und Gewissen etwas für die Zukunft tun, das ist klar. Aber man muss aufpassen bei all den Selbsterklärungen in Bezug auf Neubauten, die angeblich nach 50 Jahren komplett rückbau- oder recyclebar sind. Wir hoffen alle, dass das so sein wird, aber wir wissen es nicht. Auf der anderen Seite haben wir Herausforderungen, die der Bestand mit sich bringt: Wir müssen mit Materialien umgehen, die schadstoffbelastet sein können, die in schlechtem Qualitätszustand sein können, weil sie für eine lange Nutzungsdauer nicht entwickelt wurden und das Wissen dafür auch gar nicht vorhanden war. In jedem Einzelfall müssen wir ganz genau überlegen, ob es überhaupt Sinn ergibt, diese Materialien weiter- oder wiederzuverwenden.
Du sagst, dass viel über zirkuläres Bauen gesprochen werde. Aber wie sieht das in der gebauten Realität aus? Hast du da Zahlen, Erfahrungen?
Das schockiert mich wirklich. Bei Vorträgen, Veröffentlichungen und auch auf Social Media bekommt man das Gefühl, dass Zirkularität angekommen ist. Gefühlt reden alle darüber und finden das ganz toll. Vor drei Jahren haben wir eine Studie zu den ersten Taxonomie-Kriterien durchgeführt, bei der rund 60 Projekte aus Europa teilgenommen haben. Im letzten Jahr haben wir eine weitere Studie zu den neuen Circular-Economy-Kriterien der Taxonomie veröffentlicht. Es haben gerade mal die Hälfte der Projekte aus ganz Europa teilgenommen, die wir angesprochen haben. Dabei sind wir auf einschlägige Projekte – auch in Deutschland – zugegangen, die damit ganz stark in der Kommunikation sind. Für viele scheint es noch immer nur eine schöne Gedankenübung und ein tolles Thema bei Vorträgen zu sein. Aber in unserer gebauten Realität ist das in dieser Dimension nicht präsent. Wenn man sich die Zahlen ansieht, die in solchen Kontexten fallen: Das sind Weiterverwendungs- und Recyclingquoten, bei denen unsere Erfahrung zeigt, dass das nicht realistisch ist. Es gibt ganz wenig Substanz und Verständnis, wie viel Prozent heute beim Rückbau eines Gebäudes auf der gleichen Hierarchieebene tatsächlich weiterverwendet werden können.
Graue und betriebsbedingte CO2-Emissionen in Gebäuden: Eine klimaschonende Bauweise (linke Hälfte) ist ein großer Hebel zur Reduzierung von Treibhausgasemissionen. © DGNB
Einige Interviewpartner haben uns gespiegelt, dass das Gewährleistungsthema beim Zirkulären Bauen eine große Hürde darstelle. Gibt es hier politische Bestrebungen?
Ja, klar. Zum Beispiel die Bauprodukteverordnung, mit der das Thema sehr stark getrieben wird. Aber da sind eher die Hersteller in der Verantwortung. Es gibt natürlich auch den Wunsch, das Thema Weiterverwendung und Recyclingquoten im Bauen voranzubringen. Ich glaube aber, dass man gar nicht dort hinschaut, wo man eigentlich hinschauen müsste, um diese Kette wirklich zu schließen.
Und das wäre?
Die Rückbau- und Entsorgungsunternehmen. Allein das Thema Recyclingbeton scheitert an der Verfügbarkeit oder daran, dass die Transportwege sehr weit und deshalb wirtschaftlich nicht mehr vertretbar sind. Teilweise entscheiden 20 km Fahrtweg, was mit den Materialien passiert. Gerade Bodenaushub und mineralische Abbruchabfälle haben hier in Deutschland einfach keinen Wert, sind immer noch viel zu günstig und werden im Durchschnitt 300 km gefahren – meistens auf Lkws. Das ist ein ganz großes Problem.
Drei Punkte, die bei der Ressourcenschonung beim Bauen helfen: 1. Ressourcen, wenn möglich erhalten und ihren Einsatz auf das Wesentliche reduzieren, 2. Ressourcen bevorzugen, die genügend verfügbar sind, 3. Zukunftsorientiert planen, um Ressourcen möglichst lange nutzen zu können. © DGNB
Machen sich die Auswirkungen der EU-Taxonomie auf dem Markt schon bemerkbar?
Das ist eine Frage der Zielgruppe. Auf europäischer Ebene passiert wahnsinnig viel. Allerdings vor allem in Bezug auf Produkte; zum Beispiel durch den Circular Economy Action Plan. Dadurch bekommen Unternehmen ordentlich Druck zu spüren und das ist auch gut. Denn wir haben ja alle ein Recht auf gute Produkte. Aber natürlich spielt auch die Rohstoffknappheit eine Rolle. In Frankreich sind das Recycling und die Rücknahme von Gips beispielsweise inzwischen wirtschaftlicher als ihn zuzukaufen.
Die Regularien auf EU-Ebene sind also noch nicht komplett ausgereift?
Ein Gebäude ist keine Waschmaschine. Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Kommission beim Thema Zirkularität im Gebäudesektor versucht, mit gleichen Mechanismen wie bei Elektrogeräten vorzugehen. Das ist ja ein beliebtes Spiel im Bauen. Dadurch, dass man mit ganz vielen Sektoren zu tun hat und in anderen Sektoren Produkte bestellt, haben diese Sektoren ein großes Interesse daran, dass ihre Problem- oder Fragestellungen irgendwo anders landen. Deshalb muss man die Architekten davor schützen, sich alle Probleme der Welt auf den Schreibtisch schieben zu lassen.
Was würdest du dir wünschen, damit zirkuläres Bauen zum Standard wird?
Pragmatismus und Ehrlichkeit. Ich wünsche mir, dass man sich ganz ehrlich auf das Hier und Jetzt fokussiert, dass man auch über Transportwege spricht und den Aufwand, den Recyclingprozesse mit sich führen. Ich wünsche mir auch, dass Zirkularität oder Circular Economy nicht als Einladung dafür verstanden wird, mit gutem Gewissen mehr zu konsumieren.
Christine Lemaitre ist Bauingenieurin und seit 2010 geschäftsführende Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Die Non-Profit-Organisation wurde 2007 gegründet, hat ihren Sitz in Stuttgart und zählt heute über 2000 Mitgliedsorganisationen. Über die DGNB-Zertifizierung von nachhaltigen Gebäuden, Innenräumen und Quartieren werden die unterschiedlichen Aspekte des nachhaltigen Planens, Bauens und Betreibens praktisch anwendbar.
Das komplette Interview wurde zuerst veröffentlicht in der Publikation „Zirkuläres Bauen in der Praxis“.
Verfasser/-innen:
Markus Weismann, asp Architekten
Marcus Herget, Marcus Herget Beratungsunternehmen
Nadine Funck, asp Architekten
Raphael Dietz, asp Architekten
Auftraggeberin:
Wirtschaftsförderung Region Stuttgart
Die Publikation untersucht, inwieweit zirkuläres Bauen bereits am Markt angekommen ist, welche Potenziale sich dadurch ergeben und wie diese besser ausgeschöpft werden können. Die 15 Experteninterviews zeigen dabei die unterschiedlichen Perspektiven aus Wirtschaft, Politik, Architektur, Wissenschaft und Bauherrinnen auf.
Download: Zirkuläres Bauen in der Praxis