14.08.2012

Zu Hause in der Zeit - von Juhani Pallasmaa

In unserer schnelllebigen Zeit strebt die Architektur wie besessen nach Neuem und nach optischen Reizen, vernachlässigt dabei jedoch Emotion und Atmosphäre. Die Zeit ist reif für eine Rückbesinnung auf alternative Traditionen der Moderne: auf Gebäude, die alle Sinne ansprechen, Materialien und Strukturen betonen und im Wissen um die Unvollkommenheit des Lebens tief in ihrer Zeit verankert sind. Ein Text von Juhani Pallasmaa.

„Es scheint, als reagiere der Raum – in dem Bewusstsein, [...] der Zeit unterlegen zu sein – mit der einzigen Eigenschaft, die der Zeit fehlt: mit Schönheit.“ Joseph Brodsky

Hin zu einer Architektur der Imperfektion

Das Streben nach Abstraktion und Perfektion lenkt die Aufmerksamkeit auf die Welt immaterieller Ideen; Materie, Verwitterung und Verfall hingegen verstärken die Erfahrung von Kausalität, Zeit und Wirklichkeit. Es klafft ein fundamentaler Unterschied zwischen der idealistischen Vorstellung menschlicher Existenz und unseren tatsächlichen Lebensbedingungen. Das wahre Leben ist immer ‚unrein’ und ‚chaotisch’; fundierte Architektur schafft einen Spielraum für diese ‚Ungereimtheiten’ des Lebens. John Ruskin argumentierte: „Im Grunde genommen ist Imperfektion essenziell für alles, was wir vom Leben wissen. Sie ist Lebenszeichen im sterblichen Körper, ein Zeichen von Veränderung und Wandel. Nichts, was lebt, ist oder kann absolut perfekt sein; ein Teil verfällt, ein anderer ist im Entstehen … Und alle lebendigen Dinge zeigen gewisse Unregelmäßigkeiten und Mängel, die nicht nur Zeichen des Lebens, sondern auch Quell der Schönheit sind.“ Alvar Aalto griff Ruskins Idee auf, als er vom „menschlichen Fehler“ sprach und die Suche nach absoluter Wahrheit und Perfektion kritisierte: „Der menschliche Fehler war vermutlich immer schon Teil der Architektur. Eigentlich war er sogar unverzichtbar, um Gebäuden die Fähigkeit zu verleihen, die Fülle und positiven Werte des Lebens auszudrücken.“ Materialität, Erosion und Destruktion stehen im Vordergrund der zeitgenössischen Kunst, angefangen von Arte Povera und Gordon Matta-Clark bis hin zu Anselm Kiefer. Sie sind in den Filmen von Andrei Tarkowski ebenso präsent wie in zahllosen Kunstwerken, die mit materialgebundenen Bildern und Prozessen arbeiten. „Zerstören und Aufbauen sind gleich wichtig, uns muss beides am Herzen liegen …“, sagt Paul Valéry, und tatsächlich sind Motive von Destruktion und Verfall in der heutigen Kunst auffällig populär. In der Installationskunst von Jannis Kounellis kommen Träume und Erinnerungen durch rostigen Stahl, Kohle und Sackleinen zum Ausdruck, während die riesigen Skulpturen Richard Serras und Eduardo Chillidas aus Schmiede- und Walzeisen Gewicht und Schwerkraft geradezu körperlich erfahrbar machen. Diese Werke sprechen unser Knochen- und Muskelsystem direkt an; sie sind Mitteilung der Muskeln des Bildhauers an die des Betrachters. Wolfgang Laibs Werke aus Bienenwachs, Pollen und Milch beschwören spirituelle und rituelle Bilder und verkörpern ökologisches Bewusstsein. Bei Andy Goldsworthy und Nils-Udo verschmelzen Natur und Kunst mit Hilfe natürlicher Materialien, Prozesse und Inhalte zu ‚biophilen’ Kunstwerken. Die immer größere Bedeutung ökologisch unbedenklicher Werte und Lebensweisen legt zweifellos eine neue Architektur nahe, die Materialien, Prozesse und Zeitzyklen nicht nur bewusst einsetzt, sondern zu Merkmalen einer neuen Schönheit macht. Joseph Brodsky fordert mit der Sicherheit eines großen Poeten: „Der Zweck der Evolution ist, glaubt es oder nicht, die Schönheit“.

Von Menschenhand geschaffene Umgebungen und Strukturen, seien sie materieller oder mentaler Art, verwandeln homogenen, grenzenlosen und sinnfreien ‚natürlichen’ Raum in individuelle Orte mit spezieller kultureller Geschichte und Bedeutung. ‚Wilder’ Raum wird durch die Architektur zu kulturellem Raum domestiziert, der unser Verhalten, Denken und Fühlen ausdrückt und bestimmt. Architektonischer Raum vermittelt zwischen Natürlichem und Künstlichem, Weite und Enge, Gemeinschaft und Individualität, Vergangenheit und Zukunft. Indem wir uns in das ‚Fleisch der Welt’ (im Sinne Maurice Merleau-Pontys) einfügen, werden wir Teil des Raums, und der Raum wird Teil von uns. „Ich bin der Raum, wo ich bin“, schreibt der Dichter Noël Arnaud. So, wie wir im Raum verweilen, müssen wir auch die Zeit „zähmen“ und uns in ihren Lauf einfügen. Der Philosoph Karsten Harries hat dies einmal so ausgedrückt: „Architektur dient nicht nur der Domestizierung des Raums, sondern auch der nachhaltigen Verteidigung gegen den Schrecken der Zeit. Die Sprache der Schönheit ist im Grunde die Sprache zeitloser Wirklichkeit.“ Die unermessliche und endlose Zeit des Universums ist dem Menschen unerträglich; so muss auch die Dimension der Zeit auf menschliche Maße und Deutungen ‚gestutzt’ werden. Zeit ist das größte Mysterium der physikalischen Welt. Zum fundamentalen Geheimnis der Zeit formulierte der heilige Augustinus pointiert: „Was ist Zeit? Wenn man mich nicht danach fragt, weiß ich es. Wenn man mich danach fragt, weiß ich es nicht.“ Es gibt diverse gänzlich verschiedene Zeitskalen – die kosmologische Zeit, die geologische Zeit, die evolutionäre Zeit, die kulturelle Zeit, die biologische Zeit, die atomare Zeit usw. So ist auch eine architektonische Zeit denkbar, welche Mittler zwischen diesen verschiedenen Zeitskalen und Ausdruck des zeitlichen Bereichs ist, in dem wir als biologische und kulturelle Lebewesen existieren.

Architektur in schnelllebigen Zeiten Architektur manipuliert und speichert, verlangsamt und fragmentiert die Zeit; sie bringt sie zum Stillstand und setzt sie bisweilen sogar zurück. In der heutigen Welt ständiger Hetze hat sich die Zeit schwindelerregend beschleunigt. Dem scheint selbst die Architektur Tribut zu zollen. In verblüffender Ähnlichkeit zu Literatur und Film ‚erzählt’ Architektur ebenfalls temporale Geschichten, wenn auch selten in gleicher Absicht wie diese. So, wie wir am ‚Fleisch der Welt’ Anteil haben, haben wir auch Anteil an ihren zeitlichen Rhythmen. Die moderne Welt ist besessen von allem, was neu und zeitgemäß ist; unsere Besitztümer und Gebäude sollen am besten immer neu bleiben. Wir haben die Realität des Alterns und Sterbens an den Rand unseres Bewusstseins verdrängt und dem Tod den Rücken gekehrt. In der unbewussten Angst vor Verfall möchten wir alle Spuren des Alters auf unseren Körpern eliminieren und alle Zeichen von Zeit und Gebrauch an unseren Gegenständen und in unserer Umgebung unterdrücken.  Zunehmend nutzen wir Materialien, die keine Verschleißerscheinungen zeigen. Gleichzeitig empfinden wir moderne Umgebungen als befremdlich oder gar nekrophil und bewundern die Städte, Orte und Dörfer alter Kulturen wegen ihrer menschlichen Wärme und der haptischen Empfindung von Geschichte, Zeit und gelebtem Leben, die durch die Schichten ihrer Patina dringt. Unser eigener Lebensraum wird von visuellen Reizen dominiert, während wir die von uns geliebten historischen Stadtbilder nicht nur mit dem Auge, sondern gleichermaßen durch Hören, Berühren und Riechen wahrnehmen.

Juhani Pallasmaa arbeitet seit den 60er-Jahren als Architekt, Schriftsteller und Universitätsprofessor. Seit er 1997 seine Position als Professor und Dekan der Technischen Universität Helsinki aufgab, lehrte er als Gastprofessor an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland, derzeit an der Catholic University of America in Washington, D. C. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Schriften, hauptsächlich zur Bedeutung menschlicher Wahrnehmung in Kunst und Architektur, sowie Essays über diverse Künstler und Architekten. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören The Embodied Image, (London 2011), The Thinking Hand, (London 2009), The Eyes of the Skin (London 1995, 2005) und The Architecture of Image: existential space in cinema (Helsinki, 2001, 2005).

Der vorliegende Text erschien zuerst in der Zeitschrift Daylight & Architecture  www.velux.com/da  

Die Abbildungen zeigen zwei schöne Beispiele atmosphärischer Architektur – eines aus dem 19. und eines aus dem 21. Jahrhundert: Sacrower Heilandskirche von Ludwig Persius und Museum Brandhorst in München von Sauerbruch Hutton, Fotos: Cordula Vielhauer

Materielle Imagination und Atmosphäre Wir besitzen eine erstaunliche Fähigkeit, die Atmosphäre eines Ortes oder Raums zu erfassen. In Städten, Landschaften oder Räumen erkennen wir deren Wesen und Eigenschaften in Sekundenbruchteilen, noch bevor wir irgendwelche Details erfasst oder begriffen haben. Tatsächlich scheint unsere Wahrnehmung der Umgebung vom Ganzen zu den Einzelheiten zu verlaufen und nicht, wie oft behauptet, umgekehrt. Im letzten Jahrhundert strebte die moderne Architektur nach Perfektion in Raum, Form und Detail, wobei die Gesamtatmosphäre in den Hintergrund rückte. Das Element von Zeit und Dauer, kombiniert mit dem Gespür für menschliches Leben, ist deutlich enger mit peripheren, unbewussten atmosphärischen Erfahrungen verbunden als mit der fokussierten und bewussten Wahrnehmung von Formen. Gaston Bachelard unterscheidet zwischen ‚formaler Imagination’ und ‚materieller Imagination’ und behauptet, dass Bilder, die aus der Materie entstehen, eine stärkere emotionale Wirkung erzeugen als Bilder von Formen. Bemerkenswert ist, dass die historische Architektur überall in der Welt die Erfahrung von Materialien, Strukturen und dem Wechselspiel von Licht und Schatten betont, während die moderne Architektur klare geometrische, häufig weiße und glatte Formen bevorzugt. Erstere ‚berührt’ den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes und vermittelt eine Fülle zeitlicher Botschaften, Letztere wird vom Optischen dominiert und tendiert dazu, Gebrauchs- und Zeitspuren als Fehler oder Mängel anzusehen. Dies ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Architektur, die Gebrauchsspuren willkommen heißt, und einer solchen, die von Zeit und Verschleiß möglichst unberührt und unangetastet bleiben will. Die gemeinhin weiße modernistische Ästhetik birgt strenge moralisierende Untertöne. Laut Le Corbusier „dient das Weiß dem Auge der Wahrheit“.6 Die moralischen Bedeutungen des Weißen bringt er auf sonderbare Weise zum Ausdruck: „Weiß ist extrem moralisch. Man stelle sich vor, alle Räume in Paris müssten per Erlass weiß getüncht werden. Ich denke, das wäre eine polizeiliche Aufgabe großen Ausmaßes und Ausdruck höchster Moral, das Zeichen eines großen Volkes.“ Im Allgemeinen reflektiert die Moderne dieses Ideal von Reinheit und Reduktion, während „die andere Tradition moderner Architektur“, um Colin St John Wilson zu zitieren, sich in Materialität und Vielfalt struktureller Formen sowie im Licht- und Schattenspiel manifestiert und dementsprechend, im Gegensatz zu den formalen Idealen und der Perfektion der klassischen Moderne, auf die Projektion atmosphärischer Eigenschaften abzielt.

Die Polyphonie der Sinne In einer Vorlesung im Jahr 1936 regte Erik Gunnar Asplund, enger Freund und Mentor Alvar Aaltos, den Wandel der Ideale namhafter nordischer Architekten Mitte der 30er-Jahre an: „Die Vorstellung, nur visuelle Darstellung könne Kunst sein, ist sehr eingeschränkt. Nein, alles, was unsere Sinne durch unser menschliches Bewusstsein erfassen und das die Fähigkeit besitzt, Sehnsucht, Freude oder Emotionen hervorzurufen, kann ebenfalls Kunst sein.“ Merleau-Ponty unterstreicht die Wichtigkeit der Einbindung aller Empfindungsbereiche: „Meine Wahrnehmung ist nicht die Summe einzelner visueller, taktiler und akustischer Gegebenheiten: Ich nehme allumfassend mit meinem ganzen Sein wahr: Ich erfasse die besondere Struktur einer Sache, eine besondere Art des Seins, die all meine Sinne zugleich anspricht.“ Der Philosoph beschreibt hier ganz offensichtlich eine übergreifende atmosphärische Erfahrung, nicht die bloße Wahrnehmung der Form. Gaston Bachelard nennt diese sensorische Interaktion die „Polyphonie der Sinne“. Unsere Gebäude sind Teil desselben ‚Fleisches der Welt’ wie wir als physische Lebewesen. Jedes Gebäude besitzt spezielle auditive, haptische, olfaktorische und sogar gustatorische Eigenschaften, die der visuellen Wahrnehmung ein Gefühl von Fülle und Leben verleihen, ähnlich wie auch das Meisterwerk eines Malers all unsere Sinne anspricht. Man denke nur an das Empfinden einer warmen und feuchten Brise, sanfter Klänge und des Duftes von Pflanzen und Seegras, auf magische Weise erzeugt von Henri Matisse durch das Gemälde einer offenen Balkontür in Nizza. Aufgrund ihrer überwiegend konzeptionellen und formalen Ideale tendiert die zeitgenössische Architektur dazu, Umgebungen für das Auge zu schaffen, die in einem einzigen Moment entstanden zu sein scheinen und ein Empfinden verflachten Zeitgefühls und mangelnder Lebendigkeit auslösen. Visuelle Wahrnehmung und Immaterialität verstärken das Gefühl von Gegenwärtigkeit, während Materialität und haptische Empfindungen den Eindruck zeitlicher Tiefe und Kontinuität vermitteln. Unvermeidliche Alterungs-, Verwitterungs- und Abnutzungsprozesse werden gemeinhin nicht als bewusste und positive Gestaltungselemente betrachtet, da das architektonische Artefakt vermeintlich im zeitlosen Raum angesiedelt ist. Dies ist jedoch eine idealisierte und künstliche Vorstellung ohne Bezug zur empirischen Wirklichkeit von Zeit und Leben.  Die moderne Architektur strebt danach, eine Aura von Alterslosigkeit und ewiger Gegenwärtigkeit zu vermitteln. Die Ideale von Perfektion und Vollständigkeit entfernen das architektonische Objekt zusätzlich von der realen Zeit und Nutzung. Infolge der Vorstellung zeitloser Perfektion sind unsere Gebäude anfällig für die negativen Auswirkungen der Zeit, sozusagen der Rache der Zeit ausgesetzt. Statt die positiven Eigenschaften würdigen Alters zu betonen, greifen Zeit und Gebrauch unsere Gebäude in negativer und destruktiver Weise an. In den letzten Jahrzehnten wurde Neuartigkeit als eigenständiges Kunstkriterium und Wert an sich zur Obsession. Doch wahre künstlerische Qualität erwächst aus anderen Eigenschaften als lediglich dem Reiz des Neuen.

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