22.07.2013 George Frazzica

Perfekte Welle: Neuer Bahnhof der Reggio Emilia

Die von Santiago Calatrava geplante Dachkonstruktion setzt sich aus 19 Modulen zusammen, wovon jedes aus einer Abfolge von 25 Stahlelementen gebildet wird, die versetzt und jeweils mit einem Abstand von ca. 1 Meter positioniert sind. In ihrer Gesamtheit entsteht so die Form einer dreidimensionalen Sinuskurve, die eingebettet in die gänzlich horizontale Ebene den Eindruck natürlicher Dynamik entstehen lässt: eine perfekte Welle.

Architekt: Santiago Calatrava, Zürich
Standort: I-62020 Reggio nell’Emilia (RE)

Foto: Oscar Ferrari

Der Bahnhof Reggio Emilia AV Mediopadana ist der einzige Haltepunkt für Hochgeschwindigkeitszüge im Streckenabschnitt Mailand–Bologna und wurde im Juni 2013 offiziell für Reisende in Betrieb genommen. Die Entwicklung und Planung des Bahnhofsprojektes hatte zum Ziel, ein sehr viel größeres Einzugsgebiet als nur die Stadt Reggio Emilia zu bedienen, ausgehend von 2 Millionen potentiellen Nutzern. Die Infrastruktur  wurde entwickelt, um die sogenannte „Area Vasta“, die „weite Fläche“, zu bedienen, die sich von Modena bis nach Parma erstreckt und im Norden die Provinzen Cremona, Mantua und Verona streift.  Die Baumaßnahme ist Teil eines Projektes zur Stadterneuerung, das den gesamten Nordteil der Provinzhauptstadt Reggio Emilia einbezieht. Die Stadterneuerung liegt in den Händen des spanischen Architekten Santiago Calatrava, der bisher fünf große Bauwerke für Reggio Emilia geschaffen hat: Den gerade eingeweihten Bahnhof, drei im Jahr 2007 fertiggestellte Brücken entlang der neuen, städtischen Schnellverkehrsstraße  Reggio Emilia – Bagnolo und die Dachkonstruktion der Mautstation an der Autobahn A 1. Der Bahnhof, einziger Haltepunkt zwischen Mailand und Bologna, gewährleistet eine rasche und bequeme Anbindung an Mailand (circa 40 Minuten) und Bologna (circa 20 Minuten).

Foto: Carlo Vannini

Geometrie
Der neue Bahnhof liegt 4 km vom Stadtzentrum Reggio nell’Emilia und wenige hundert Meter von der neuen Mautstation an der A 1, der „Autostrada del Sole“, entfernt. Es handelt sich im Wesentlichen um eine komplett aus weiß gestrichenem Stahl und Glas bestehende Dachstruktur mit einer Gesamtlänge von 483 m. Die Breite der Struktur variiert zwischen 35 und 50 m, die Höhe ist ebenfalls variabel und erreicht durchschnittlich 20 m. Im Innenbereich, ausgehend vom Bahnsteigniveau, variiert die Höhe der Dachstruktur zwischen 7,5 m und 14,5 m. Die Konstruktion ergibt sich aus der Aneinanderreihung von 19 Modulen, jedes mit einer Länge von 25,4 m, die jeweils aus einer Folge von 25 Stahlelementen gebildet werden, die versetzt und mit einem Abstand von circa 1 m positioniert sind. 

Die geometrische Variation der Portalform, die sich in regelmäßigen Abständen wiederholt, schenkt der Struktur den außergewöhnlichen „Welleneffekt“, der sich in Grundriss und Ansicht zeigt und ein dreidimensionales Raumvolumen in Form einer Sinuskurve entstehen lässt.  Einem spezifischen geometrischen Prinzip folgend, verlaufen die Wellen an den beiden Seiten  unterschiedlich: Die bewegter wirkende Fassade, an der die beiden Wellen symmetrisch übereinandergelegt sind, ist die am Bahnhofseingang, während auf der Autobahnseite eine ruhiger erscheinende Fassade entsteht, mit gleichmäßigen (parallelen) Wellen.

Jedes Modul besteht aus einer Abfolge von 25 Stahlelementen, die versetzt und mit einem Abstand von circa 1 m positioniert sind. Foto: Oscar Ferrari

Foto: Oscar Ferrari

Foto: Oscar Ferrari

Konstruktion
Eine Glasabdeckung wurde ausschließlich über den rund 6 m breiten Ein- und Ausstiegsbahnsteigen realisiert. Die Abdeckung besteht aus rechteckigen, lichtdurchlässigen Verbundglasplatten, die mittels Aluminiumgestellen zwischen den Stahlportalen eingesetzt sind. Die gesamte Fläche wird von einer Stahlbetonstruktur getragen, die aus einem längs gerichteten Kastenträger besteht, der jeweils in 25 m Abstand auf zwei Betonträgern aufliegt.

Entlang der Bahnüberführung besteht der Bahnhofsgrundriss aus zwei Ebenen: Die obere Ebene liegt auf Höhe der Bahnsteige bzw. auf Höhe der Zughaltestelle, die untere Ebene bildet den Eingangsbereich zum Bahnhof.

Foto: Oscar Ferrari

Entlang der Bahnüberführung besteht der Bahnhofsgrundriss aus zwei Ebenen: Die erste Ebene liegt auf Höhe der Bahnsteige bzw...
Foto: Oscar Ferrari

...auf Höhe der Zughaltestelle, die untere Ebene bildet den Eingangsbereich zum Bahnhof.
Foto: Oscar Ferrari

Auf der unteren, unterhalb der Bahnsteige liegenden Ebene befindet sich der eigentliche Bahnhof, der in einem einzigen Anlagenkomplex die verschiedenen Servicebereiche beherbergt: Den Bereich für Reisende mit den entsprechenden Gewerbeeinheiten, den Zugangsbereich zu den Regionalzügen und eine Zone mit Lagerräumen, Aufbewahrungsdepots und Sanitäranlagen. Vier Rolltreppen pro Seite führen zur Bahnsteigebene, in der Gebäudemitte stehen den Reisenden zwei Panoramaaufzüge zur Verfügung.

Die Auswirkungen auf Umwelt und Landschaft wurden durch die Schaffung von Grünflächen entlang der Bahnlinie und im Eingangsbereich des Bahnhofs abgemildert. Die große Parkzone wurde etwas tiefer gelegt, leicht unter der sie umgebenden Bodenfläche, wodurch die Baumkronen erhöht und die parkenden Fahrzeuge eher verdeckt werden. Die Fassadengeometrie bleibt so ungestört und kann perfekt wahrgenommen werden.

Foto: Kai-Uwe Schulte-Bunert

Weitere Elemente des Baukomplexes
Im Rahmen desselben Projektes hat Santiago Calatrava auch drei Brücken und eine Mautstation an der Autostrada del Sole für Reggio Emilia entworfen. Die Zentralbrücke, über der Autobahn A1 und der Hochgeschwindigkeitstrecke, erhebt  sich in einem einzigen Bogen mit einer Spannweite von 221 Metern. Sie besteht aus zwei Stahlbeton-Widerlagern, einem Brückenkörper bestehend aus einem zentralen Stahlkastenträger,  an den die zwei „Rippen“, auf denen der Autoverkehr läuft, geschweißt sind und schließlich aus einem großen Bogen von 50 m Höhe mit oktogonalem Querschnitt, der längs dem Straßenverlauf steht. Die Verbindung zwischen Stahlkastenträger und Bogen wird durch 50 Spannseilpaare hergestellt. Die Fahrradwege sind aus Verbundsicherheitsglas und das Gesamtgewicht der vollständig verschweißten Stahlkonstruktion beträgt 4.000 Tonnen.

Unmittelbar im Süden und Norden der Zentralbrücke erheben sich die Zwillingsbrücken. Sie haben eine Länge von 179 m und eine Breite von 15 m und sind, ausgenommen die Widerlager, vollständig aus weiß lackiertem Stahl konstruiert. Bei diesen beiden Brücken sind die Seile eher ungewöhnlich, nämlich hyperbelförmig, gespannt.

Die neue Mautstation Reggio Emilia befindet sich circa einen Kilometer westlich der alten Mautstation in Richtung Parma und dient als Zugangsportal für die Reisenden auf der Autostrada del Sole. Die Konstruktion besteht aus zwei gebogenen Stützpfeilern, einem Dach aus Stahl und Glas, 56 Stahlrippen und 52 Stahlseilen; diese bilden die Form eines umgekehrten Bogens. Die im Querschnitt spindelförmigen Stützpfeiler haben  eine Höhe von 50 m. Wer von der Autobahn kommend Richtung Reggio Emilia fährt, dem präsentieren sich die Mautstation und die südliche Brücke als eine außergewöhnliche Komposition, die der bewusst effektvollen Planung der einzelnen Bauwerke zu verdanken ist.

Im Rahmen der ersten Machbarkeitsstudie zum Bahnhofsprojekt entstand der gestalterische Gedanke eines „Segels“, was vorwiegend in der Form der Brücken und der Mautstation deutlich wird. Im Laufe der Zeit wurde die gestalterische Idee mehrfach verändert; schließlich entwickelte sich daraus, nach Anpassungs- und Überarbeitungsschritten, die Form der „Welle“, die sich deutlicher von den Brücken abhebt – trotzdem aber die Kohärenz der Formensprache beibehält – und mit größerer Entschiedenheit das Geschwindigkeitsprinzip Marinettis beschwört. Nichtsdestotrotz erscheint der Baukomplex in der horizontalen Weite der Poebene fast übertrieben konzentriert und verschreibt sich einer Monumentalität, die der lokalen kulturellen Identität fremd ist, auch wenn dieses Mal die „gute“ Welle nichts mit der „bösen“ Welle gemein hat, die vor genau einem Jahr das mehr oder minder selbe Gebiet verwüstet hatte.

Foto: Oscar Ferrari

Projektdaten

Auftraggeber: Stadt Reggio Emilia, TAV SpA – Hochgeschwindigkeits AG der italienischen Eisenbahnen
Projektentwurf: 2003–2007
Projektrealisierung: 2009–2013
Baukosten: Arbeiten gemäß Ausschreibungswettbewerb in Höhe von 70.000.000 Euro
Ausführendes Unternehmen: Cimolai S.p.A.

Länge: 483 m
Durchschnittliche Höhe: 20 m
Stahlgewicht: 14.000 t
Fläche Bahnsteige: circa 7.300 m²
Glasflächen: circa 10.000 m²
Stahlelemente: 457
Bogenpfeiler: 38
Weitere Fotos in der Galerie:
Weitere Projekte zum Thema »Bauen mit Stahl« finden Sie in unserer aktuellen Ausgabe DETAIL 2013/7+8.
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