Nieder mit den Häkeldeckchen

Workshopsituation »Nieder mit den Häckeldecken« (Foto: Universität Witten/Herdecke, Julia Kirch)

Welche Wohnformen werden den veränderten Wohn- und Lebensansprüchen der kommenden Generation pflegebedürftiger Personen gerecht? Welche Ansprüche an das Wohnen werden von der zukünftigen Zielgruppe überhaupt gestellt? Das Forschungsgebiet der ökologischen Gerontologie betont die Wichtigkeit der gebauten Umwelt besonders im Alter: Die Abhängigkeit von der Umwelt steigt, weil die Kompensationsfähigkeit nachlässt, die Umweltbezüge schrumpfen und der ältere Mensch »verwächst« durch langjährige Austauschprozesse der Person-Umwelt-Beziehung zunehmend mit seiner Umgebung. Durch einen Workshop mit Vertretern der fokussierten Zielgruppe sollten Ergebnisse zu wenig erforschten konkret-räumlichen Bedürfnissen der zukünftigen Bewohnerschaft in versorgenden Wohnformen im Alter geliefert werden. Die Veranstaltung im Rahmen des Studiengangs »Multiprofessionelle Versorgung von Menschen mit Demenz (M.A.)« mit dem Titel »Nieder mit den Häkeldeckchen« fand im Sommer 2016 an der Universität Witten/Herdecke mit 17 Teilnehmern zwischen 58-73 Jahren statt. Bei Konzeption und Auswertung des Workshops wurde der Fokus auf Elemente des raumbildenden Ausbaus gelegt. Theoretische Grundlage hierfür waren zentrale Attribute aus der ökologischen Gerontologie: 1. Privatheit, 2. Stimulation, 3. Persönliche Kontrolle, 4. Sozialer Kontakt, 5. Kontinuität des Selbst und 6. Schutz und Sicherheit. Die Umsetzung dieser theoretischen Begriffe in gebaute Umwelt wurde anhand unterschiedlicher Methoden beurteilt: Zunächst wurde genannt, durch welche räumlichen Attribute das jeweilige Wohnbedürfnis individuell gewährleistet wird. Hier wurde auf subjektive Erfahrungen und Meinungen zurückgegriffen, die im Folgenden anhand der individuellen Lieblingsplätze durch die Teilnehmer selbst erläutert wurden. Im zweiten Schritt fand eine Bewertung und Diskussion anhand konkreter räumlicher Situationen mit Hilfe von Abbildungen statt. Auf einer Matrix konnten die Teilnehmer ihre Einschätzung zur Gewährleistung von Wohnbedürfnissen per Punktevergabe beurteilen. Das gleiche Verfahren wurde im darauffolgenden Schritt für die Beurteilung von Wohnformen angewendet. Abgeleitete Planungsempfehlungen für die Praxis
Soziale Teilhabe

Soziale Teilhabe muss gewährleistet werden. Das heißt konkret, dass ein Objekt für altersgerechtes Wohnen nicht nur als freistehendes Gebäude betrachtet werden darf, sondern in jedem Fall das Quartier mit einbezogen werden muss. Gesetzliche Vorschriften geben hierfür bereits Vorgaben und Anreize in Form von Förderprogrammen vor, z.B. Wohn- und Teilhabegesetz NRW (WTG) oder SGB XI §45: »Initiativprogramm zur Förderung neuer Wohnformen«. 
Unabhängig von der Einbindung in das Quartier bedeutet soziale Teilhabe auch, dass ausreichend Platz und Möglichkeiten geboten werden, um Besuch empfangen zu können. Tätigkeit und Aktivität
Die Tätigkeit als verbindendes Element von Mensch und Umwelt hat sich stark bestätigt. Als sehr wichtig hierfür erweist sich das gemeinsame Tun. Eine Sitzmöglichkeit zu schaffen, reicht allein nicht aus, sondern es sollte auch überlegt werden, was in den Räumen passieren soll. Für gewünschte Aktivitäten müssen die entsprechenden Räumlichkeiten geschaffen werden, z.B. der Grillplatz oder der Werkraum. Unterschiedliche Raumsituationen
Die Verdichtung von drei Arten von Lieblingsplätzen verdeutlicht die Wichtigkeit der Auswahlmöglichkeiten. Als grundlegend erweist sich das Gewährleisten unterschiedlicher Raumsituationen, sodass wahlweise der Rückzug zu sich selbst, der Bezug zur Natur oder der soziale Austausch gewählt werden kann. Bezug zur Natur
Es hat sich gezeigt, dass über bestehende Erkenntnisse des altersgerechten Wohnens hinaus Aktivität und der Bezug zur Natur zentrale Elemente sind, die das Befinden und die Bewertung von Raumsituationen positiv beeinflussen. Es sollten hierfür mehr Naturelemente bei der Konzeption von Gebäudestrukturen berücksichtigt werden, z.B. durch bewusst gewählte Ausblicke und Zugänglichkeit in den Außenbereich. Nutzungsoffenheit / Möglichkeitsraum
Ein Aspekt, der unter verschiedenen Umweltattributen zur Sprache kam, war die Nutzungsoffenheit. Dies bedeutet, dass in Räumen verschiedenen Nutzungen stattfinden können. Im Sinne eines Möglichkeitsraums soll aber auch die Kreativität des Einzelnen angesprochen werden und so eine Stimulation auf verschiedenen Ebenen erwirken. Auch sollte der räumlichen Gestaltung eine nicht zu gehobene Ausprägung geben werden: Eleganz wurde klar als Barriere für sozialen Austausch definiert, die Einfachheit von Möblierung wurde als positiv bewertet. Mitbestimmung
Die Mitbestimmungsmöglichkeiten des Individuums sollten erhalten werden, indem persönliche Kontrolle über die Umwelt ausgeübt werden kann, z.B. durch das selbstständige Einstellen von akustischen und visuellen Reizen mit Hilfe von Jalousien, Türen und Vorhängen oder das eigenständige Regeln des Heizthermostats. Ergebnis
Aus den Workshop-Inhalten lässt sich über die Gestaltungsempfehlungen hinaus schlussfolgern, dass die Menschen vor allem selbstbestimmt wirken und mitreden wollen. Themen der selbstständigen Entscheidungsmöglichkeit (auf- und abschließen, Hausregeln bestimmen, Zugänglichkeit kontrollieren, Umweltreize steuern können etc.) wurden bezogen auf unterschiedliche Umweltattribute immer wieder erkennbar. Dies kann als Hinweis auf gestiegene Ansprüche der zukünftigen Alten gedeutet werden. Zudem hat die Diskussion zu bekannten altersgerechten Wohnformen gezeigt, dass die Teilnehmer überwiegend wenig informiert waren über die Angebotslandschaft der Wohnmöglichkeiten. Hier besteht Verbesserungspotenzial, indem Informationsmöglichkeiten für die kommende Generation pflegebedürftiger Menschen geschaffen werden. Der Architekt kann in seiner Rolle als Bauexperte sicherlich einen Teil zur Informationsweitergabe beitragen, aber die Verantwortung der Aufklärung liegt an dieser Stelle vor allem bei den Kommunen. Dies wird im 7. Altenbericht klar gefordert.
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