Lesekirche: Buchladen in Shanghai
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„Ich glaube, dass dieser Buchladen ein Heiligtum der Stadt Shanghai sein sollte“: Unbescheiden klingt das, was Yu Ting, der Gründer des Architekturbüros Wutopia Lab, über sein Umbauprojekt in der ehemaligen russisch-orthodoxen St. Nikolaus-Kirche in der chinesischen Metropole sagt. Doch der Ort hat tatsächlich etwas Magisches, und Yu ist es gelungen, diesen Charakter von den Ablagerungen späterer Zeitschichten zu befreien. Die Kirche war 1937 geweiht worden und danach nur 12 Jahre in Betrieb, bevor sie eine wechselhafte Nachnutzung als Büro, Werkstatt; Lagergebäude, Kantine, Wohngebäude und Restaurant erfuhr. Wie ein ruinöses Labyrinth sei ihm das Gebäude beim ersten Betreten vorgekommen, berichtet Yu. Die örtliche Denkmalschutzbehörde verlangte von ihm, eine später eingezogene Zwischendecke aus Beton abzureißen und den zentralen Kuppelraum in seiner vollen Höhe wiederherzustellen. Die Ladeninfrastruktur besteht im Wesentlichen aus einem kreisrunden Verkaufstresen in der Mitte und einer Art Innenkuppel aus 5 mm starken, beschichteten und teils gelochten Stahlblechen, die in ihrem unteren Teil als Bücherregal dient. Nachdem das Riesenregal in der Werkstatt einen Probeablauf durchlaufen hatte, wurden die Bleche in der Kirche fest miteinander verschweißt. Insgesamt waren 30 Arbeiter 80 Tage lang mit der Herstellung des Regals beschäftigt.
Mangels Rückwänden bleiben die Konturen des Kirchenraums durch die Fächer hindurch sichtbar – einschließlich der pseudoreligiösen Wandgemälde, die einer der Vorbesitzer des Gebäudes in den 2000er-Jahren von Kunststudenten für sein Restaurant anfertigen ließ. Den besten Eindruck von der Raum-im-Raum-Konstruktion hat man von der golden ausgekleideten Empore über dem Eingang. Zwei Seitenräume beidseitig der Altarapsis dienen als kleinere Leseräume.
Den eingeschossigen Anbau auf der Kirchenrückseite ließen die Architekten verkürzen und richteten dort ein Café ein. Das kühle Silber der Ladeneinrichtung weicht hier warmem Braun, die Lamellenstruktur aus Metall an den Wänden ist jedoch die gleiche.