16.10.2019 Bettina Sigmund

Die Bioenergiefassade – ein ressourcenschonendes und -produzierendes Fassadensystem

Unterschiedliche Gestaltungsvarainten der Bioenergiefassade (Rendering: cellparc)

Für die gebäudeintegrierte Produktion von erneuerbarer Energie zur Deckung des Bedarfs von Gebäuden an Strom und Wärme bzw. Kälte reichen Dachflächen allein nicht aus. Vor allem im urbanen Raum müssen für die Energiegewinnung weitere Flächen neu erschlossen werden, damit ab 2020 alle Neubauten in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union so viel Energie erzeugen wie sie verbrauchen. Fassaden bieten hier ein großes Potenzial. Nach Angaben einer gemeinschaftlichen Studie von DLR-Institut, IFEU und Wuppertal-Institut, stünden allein in Deutschland etwa 150 km2 an Fassadenfläche für die Energiegewinnung zur Verfügung. Allerdings werden diese dafür bislang kaum genutzt, da die am Markt befindlichen Systeme meist entweder nicht den wirtschaftlichen oder den architektonisch-ästhetischen Ansprüchen genügen.

Hier setzt die Bioenergiefassade an, die in den letzten Jahren zur Marktreife gebracht wurde. Hinter der technischen Fassadenentwicklung der weltweit ersten Bioenergiefassade beim BIQ Gebäude in Hamburg im Jahr 2013 stand ein Forschungsteam aus Arup Deutschland, SSC Strategic Science Consult, Hamburg Hafencity Universität und Colt International. Die Weiterentwicklung zur aktuellen Generation der Bioenergiefassade wurde durch ein Verbundprojekt der Technischen Universität Dresden, Arup Deutschland, SSC und ADCO Technik vorangetrieben. Das Unternehmen SSC ist nun kürzlich mit dem Tochterunternehmen cellparc in die Planung, den Bau und den professionellen Betrieb der Fassade inklusive der Vermarktung der Algen-Biomasse eingestiegen. Der Entwickler Martin Kerner, Geschäftsführer von SSC und zuständig für die technische Umsetzung des Systems, erläutert: »Wir forschen, entwickeln und untersuchen das Algen-Bioreaktor-System schon seit 2007. Ein wichtiger Zwischenschritt dieser Forschung war 2013 die Errichtung der Bioenergiefassade im Rahmen der IBA in Hamburg. Nun, weitere sechs Jahre später, bieten wir mit der Ausgründung einen Ansprechpartner für die Planung, den Bau und Betrieb großer Bioenergiefassaden ab etwa 1.000 m2 Fläche. Diese werden die Gebäude mit Wärme für Warmwasser und Heizung versorgen, produzieren zusätzlich hochwertige biogene Rohstoffe und übernehmen weitere Funktionen wie Sonnen- oder Schallschutz, thermische Isolation oder Wasserrecycling. Darüber hinaus zeigt ein zweijähriges wissenschaftliches Monitoring, dass die Bewohner von 'Algenhäusern' eine starke emotionale Verbundenheit mit dem Objekt aufbauen, da man die Bioenergiefassade mit der in ihr stattfindenden Wasserbewegung und dem Aufsteigen von Gasblasen – ganz anders als im sonst sterilen Hightech-Bereich – als eine innovative Technik sinnlich erleben kann.«

Funktionsweise der Bioenergiefassade
Die Bioenergiefassade ist ein solarthermisches System. Die Sonneneinstrahlung wird zu 38% in Wärme umgewandelt, was fast vergleichbar mit etablierten solarthermischen Systemen ist, die ungefähr 45% erreichen. Etwa 8% der Sonnenenergie werden für die Mikroalgenproduktion benötigt. Die Fassade ist ein geschlossenes, mit zirkulierendem Wasser gefülltes System. Während dem Kreislauf an einer Stelle Rauchgas/CO2 und Nährstoffe für die Algen hinzugefügt werden, können an einer anderen Stelle des Systems die Mikroalgen geerntet werden. Zusätzlich wird über einen Wärmetauscher die Wärmeenergie aus dem solaren System abgezogen. Wichtig für den sicheren Betrieb ist ein vollautomatisches Steuerungssystems, mit dem die Bioenergiefassade mit geringem Personalaufwand überwacht und geregelt wird.

Optimierte Fassadenintegration mit Gestaltungsvarianten
»Ein wesentlicher Entwicklungsschritt der letzten Jahre war eine Fertigungstechnik, um die Elemente der Bioenergiefassade vollständig geklebt herzustellen. Erst dies ermöglichte eine Fassadenintegration sowohl als Primär- als auch Sekundärfassade«, erläutert Kerner weiter. Das System funktioniert nun wie ein Baukasten. Die einzelnen Bioenergie-Fassadenmodule können als Elementfassade, als Pfosten-Riegel-Konstruktion oder in Form von Lamellen angeordnet werden und sind entweder als nichttragende Elemente Bestandteil der Primärfassade oder als Sekundärfassade vor der eigentlichen Gebäudehülle angeordnet. Letzteres ermöglicht eine Drehbarkeit der Elemente und darüber einen regelbaren Sonnenschutz. Je nach Anwendung sind unterschiedliche Transparenzgrade einstellbar. Eine transluzente Variante lässt die Grünfärbung der Algenschicht auch im Gebäudeinneren erlebbar werden, eine opake Variante ist zum Gebäudeinneren hin abgeschlossen. Transparente Elemente ohne bioenergetische Schicht ermöglichen als Fenster ein einheitliches Fassadenbild. Darüber hinaus wurde die Rahmenkonstruktion nach Herstellerangaben auf ein Minimum reduziert, was mit entsprechenden Einsparungen im Material- und Ressourcenverbrauch einhergeht.

Technologie erfolgreich anwenden
»Die Planung der Bioenergiefassade erfolgt durch erfahrene Ingenieure und beginnt mit der Entwicklung eines an das jeweilige Gebäude angepassten Energiekonzepts,« berichtet Martin Kerner. Und weiter: »Für den Bau der Bioenergiefassade hat cellparc Kooperationsverträge mit namhaften mittelständischen deutschen Firmen abgeschlossen, über die auch die Gewährleistung garantiert wird. Zum Betrieb bietet cellparc ein Betreiberkonzept an, das die Funktion und die Wirtschaftlichkeit der Anlage sicherstellt. Darin eingeschlossen sind eine reibungslose Wärmeversorgung, Wartung und Reparatur. Anstelle eines finanziellen Ausgleichs kann dafür das Recht, die Algen zu ernten und zu vermarkten, auf die cellparc übertragen werden.«

Neben Kostenersparnissen durch die Wärmeversorgung mittels Solarthermie sowie Gewinne durch die Wertstoffproduktion der bioaktiven Substanzen und den damit vermiedenen CO2 Emissionen, liegt ein weiterer Vorteil des bioaktiven Systems in der Möglichkeit, es mit einem Abwasserrecycling zu verbinden. »Besonders in den Maghreb-Staaten ist das Wasserrecycling ein großes Thema. Es gibt dort wenig Wasser. Das anfallende Abwasser wird zwar gereinigt, entspricht aber trotzdem nicht den Qualitätsanforderungen für die Bewässerung von Feldern, so dass es letztendlich ungenutzt entsorgt wird. Durch unsere Technologie kann dieses bereits behandelte Abwasser genutzt und durch die Mikroalgen weiter aufgebessert werden. Die darin enthaltenen Nährstoffe dienen zur Kultivierung der Mikroalgen. Wie ‚Dünger auf dem Acker’«, erläutert Kerner die Win-Win-Situation.

Auch für den deutschen Markt sieht der Entwickler durchaus Potenzial, beispielsweise bei der dezentralen Abwasserbehandlung. Diese findet im Regelfall aerob, also unter Zugabe von Sauerstoff statt. Zukunftsträchtig ist aber hingegen eine anaerobe Wasserbehandlung ohne Zuführung von Sauerstoff, bei der gleichzeitig Biogas erzeugt wird. Dabei erfolgt im Anschluss an eine anaerobe Wasserbehandlung eine tertiäre Abwasserreinigung durch die Bioenergiefassade. Anstatt Energie zu verbrauchen, werden so im Rahmen der Wasseraufbereitung Energie und Rohstoffe produziert.

Der Forschungs- und Entwicklungsprozess der Bioenergiefassade wird kontinuierlich weiter vorangetrieben. Derzeit forschen die Wissenschaftler an der zusätzlichen Integration von Photovoltaik, um einen weiteren Spektralbereich des Sonnenlichts ausnutzen zu können und den Wirkungsgrad dadurch noch weiter zu optimieren.

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